Natürlich hat J. S. Bach sicher nie daran gedacht, dass man die beiden Bände seines Wohltemperierten Claviers zyklisch aufführen sollte. Wenn dies heute doch bisweilen geschieht – dann meist mit Band I – stellt sich, wenig überraschend, häufig Langeweile oder gar Ermüdung ein – bei Interpreten wie Publikum gleichermaßen. So gab es stets Bemühungen, Teile der Zyklen durch alle Dur- und Molltonarten mit anderen Stücken zu kombinieren, was längst nicht immer überzeugte.
Von den mittlerweile 37 Solokonzerten Kalevi Ahos stellt vorliegende CD das 2014 komponierte Doppelkonzert für Englischhorn, Harfe und Orchester und das Tripelkonzert für Klaviertrio und Kammerorchester von 2018 vor. Das Doppelkonzert ist ein effektvoll ritualistisches Stück, das vier Hauptabschnitte in einem fortlaufenden Satz umfasst, wobei der gemessen voranschreitende Kopfsatz so lang ist wie die folgenden drei. An zweiter Stelle steht eine Duokadenz der Solisten, gefolgt von einem kapriziösen Allegro. Der Schlusssatz nimmt das Tempo des ersten wieder auf. Das Ganze beginnt mit geräuschhaft eisig flirrendem Nichts und endet ebendort.
Schaghajegh Nosrati, Bochumerin mit iranischen Wurzeln, übertrifft mit ihrer Einspielung der sechs Partiten von J. S. Bach die aktuelle Konkurrenz, indem sie – die durchaus Alkan zu „donnern“ versteht – den Klang des großen Steinway auf Hammerflügelformat zurücknimmt, fein artikuliert und im Sinne der historisch informierten Aufführungspraxis die Wiederholungen subtil variiert.
Bach war bekannt als außerordentlicher Solist auf Orgel und Cembalo, ebenso wie auf der Violine – er soll seine Kantatenaufführungen bevorzugt von der ersten Geige aus geleitet haben. Ob er selbst Laute gespielt hat, bleibt fraglich, doch passt seine Lautenmusik vorzüglich auf dieses intime Instrument, wie diese SACD und manche Aufnahme vor ihr unter Beweis stellen.
Anthems & Motets for Bass Singer and Basso Continuo
Baroque Bass, Anthems & Motets for Bass Singer and Basso Continuo
Footprint FR 123
1 CD • 60min • 2021
28.04.2022 • 10 10 10
Ein umfangreiches Soloprogramm mit Hymnen und Motetten des 17. Jahrhunderts aus Italien und England präsentiert der schwedische Bass Staffan Liljas in seinem Solodebüt auf CD: Es erklingen Vokalwerke von Claudio Monteverdi, Henry Purcell, John Blow und William Turner; drei Instrumentalwerke von Giovanni Picchi, Domenico Gabrielli und Girolamo Frescobaldi bereichern den italienischen Teil des Programms.
Es gehört zu den Markenzeichen des Duos Maiss You, dass Burkhard Maiß – an der Seite der Pianistin Ji-Yeoun You – in aller Regel sowohl auf der Violine als auch auf der Viola zu hören ist, und so kombiniert auch seine dritte CD, erneut bei TYXart erschienen, zwei Violinsonaten, nämlich Beethovens große Kreutzersonate und Bernd Alois Zimmermanns relativ frühe Violinsonate, mit der zweiten von Brahms’ Sonaten op. 120 (in der Fassung für Viola).
Der Freundschaft zwischen Johannes Brahms und Richard Mühlfeld, dem Soloklarinettisten der Meininger Hofkapelle, verdanken wir vier kammermusikalische Meisterwerke: Das Klarinettentrio op. 114, das Quintett op. 115 und die beiden Sonaten op. 120. Sie entstehen 1891 und 1894, nachdem Brahms sein kompositorisches Schaffen 1890 eigentlich als beendet betrachtete.
Mit der Selbstaussage „Ich habe zu viel Schopenhauer gelesen und schaue mir die Sachen anders an“ schaffte es Johannes Brahms, seinen Schützling Dvořák sehr zu betrüben. Der tief gläubige jüngere Kollege deutete, so erzählt es Josef Suk, diese Aussage als religiösen Skeptizismus. Mindestens so plausibel ist es, Brahmsens philosophische Lektüre weltanschaulich zu deuten. Das würde erklären, warum gerade die Musik der späteren Jahre so resignativ, melancholisch, traurig klingt.
Bei dieser Aufnahme stimmt alles: ein klug ausgewähltes Programm eines hervorragenden Barockkomponisten, stilsichere Interpreten, die mit viel Herz, aber auch wissenschaftlich fundiert agieren, und eine Aufnahmetechnik, die wirklichen Rundumraumklang bietet. Masaaki Suzuki kennt man als herausragenden Bach-Spezialisten, hier präsentiert er sich als Barock-Spezialist, der auch die Orgel beherrscht: Den Klang der Krigbaum-Orgel in der Marquand Chapel der Yale University rückt er geradezu prunkend ins Licht.
Armand-Louis Couperin, Complete Solo Harpsichor Music
Brilliant Classics 95459
2 CD • 1h 53min • 2020
10.03.2022 • 10 10 10
Die Couperins waren die bedeutendste Musikerdynastie des französischen Barocks; 173 Jahre lang stellte die Familie die Organisten der Kirche St. Gervais in Paris. Armand-Louis Couperin (1727-1789) war der Neffe von Louis Couperin (1926-1661) und Vetter von François Couperin «Le Grand» (1668-1721). Armand-Louis erbte die Stelle an St. Gervais von seinem Vater Nicolas, der 1748 starb. 1773 gab er sie auf; er überließ sie und die damit verbundenen Pflichten seinem Sohn Pierre-Louis als Nachfolger. Auch danach entfaltete Armand-Louis allerdings eine umfangreiche Tätigkeit als gefeierter Virtuose auf der Orgel und am Cembalo.
American Violin Sonatas by Previn • Schemmer • Gay
Crossroads, American Violin Sonatas by Previn • Schemmer • Gay
BIS 2545
1 CD/SACD stereo/surround • 71min • 2018
15.01.2022 • 10 10 10
Neben der Anne-Sophie Mutter gewidmeten 2. Violinsonate des musikalischen Tausendsassas André Previn (1929-2019) stellt die „Crossroads‟ betitelte CD der beiden, in Odessa aufgewachsenen Musiker Aleksey Semenenko und Artem Belogurov Werke zweier weiterer US-Komponisten vor, die für die meisten Hörer – den Rezensenten eingeschlossen – Neuland darstellen dürften. Für alle drei gilt, dass sie sich immer im Jazz wie in der klassischen Musik gleichermaßen zuhause gefühlt haben. Umso beeindruckender, wie in den eingespielten Violinsonaten beide Welten bruchlos zueinander finden.
Dreamlover, Music for Saxophone by Albena Petrovic
Solo Musica SM 394
1 CD • 53min • 2021
31.03.2022 • 10 10 10
Der Personalstil von Albena Petrovic ist eigenwillig. Getragen von einem raffinierten, aber nie zum Dogma erhobenen Minimalismus entfalten Töne, Motive und Klänge einen weiten, rezitativischen Atem. Metrische Konstrukte würden den natürlichen Fluss nur einengen. Das alles ist kein Selbstzweck, denn auch in Albena Petrovics rein instrumentalen Stücken will immer etwas zum „Sprechen“ gebracht werden, fast so, als würden die instrumentalen und manchmal auch vokalen Stimmen Theaterdarsteller auf einer weiten imaginären Bühne sein.
Die Churköllnische Hofkapelle des in Bonn residierenden Kölner Kurfürsten Maximilian Franz war um 1790 eines der größten Orchester Deutschlands, das daraus sich gründende achtköpfige Bläserensembles eines der glanzvollsten, die damit gespielte Harmoniemusik, „Unterhaltungsmusik“ im besten Sinne. Das hört man auf dieser CD, auf der die kurkölnische Tradition fortgesetzt wird: Alle Bläser sind Mitglieder des Beethoven Orchesters Bonn, das „in gewisser Weise legitimer Nachfolger“ dieses ‚Bonner Ur-Orchesters‘ ist“ – so formuliert es launig das Booklet.
Anders Eliasson, Symphonies Nos 3 & 4, Trombone Concerto
BIS 2368
1 CD/SACD stereo/surround • 77min • 2017
05.03.2022 • 10 10 10
Die Ersteinspielung der 2005 komponierten und im Januar 2007 in der Münchner Musica viva vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Christoph Poppen uraufgeführten 4. Symphonie ist das Hauptereignis dieser neuen Portrait-CD des schwedischen Komponisten Anders Eliasson (1947-2013), den viele Kenner für den überragenden Komponisten seiner Generation halten. Die 4. Symphonie unterstreicht derlei Einschätzung nachdrücklich, gelingt es Eliasson doch auch hier, über 27 Minuten in einem Satz eine kontinuierlich zusammenhängende dynamische Formentwicklung von enormer Spannkraft zu schaffen
Wie viele Entdeckungen würden uns entgehen, wenn Musiker wie Friedhelm Flamme sich nicht in die Werke Unbekannter verliebten? Wir würden so die vier großen Sinfonien des Komponisten, Priesters und Orgelvirtuosen Auguste Fauchard (1881-1957) zu Unrecht übersehen. Sie sind technisch mindestens ebenso anspruchsvoll wie diejenigen seines Lehrers Louis Vierne, stehen dabei jedoch musikalisch eher den Werken Alexandre Guilmants, Charles-Marie Widors und in ihrer Vorliebe für von der Gregorianik inspirierte Modalität denen Eugène Gigouts nahe.
In search of new paths, Beethoven Piano Sonatas Nos. 8 - 18
CAvi-music 8553391
3 CD • 3h 53min • 2017, 2016, 2014
20.02.2022 • 10 10 10
Fast zwei Wochen hab‘ ich mit dieser Dreifach-CD voller Beethoven-Klaviersonaten gelebt, sie in meinem Hirn weiterlaufenlassen und immer wieder mit anderen Aufnahmen verglichen, mit denen von Glenn Gould, Alfred Brendel, Svjatoslav Richter, Friedrich Gulda und Michael Korstick. Ergebnis: Tobias Koch kann nicht nur leicht neben diesen Beethoven-Koryphäen bestehen, in mein Hirn hat er sich hineingespielt und dort seinen Platz behauptet.
Die Gesamtaufnahme der Symphonien des in Lettland geborenen, nach seinen Studien in Riga und Paris ab 1951 in Kanada ansässigen Komponisten Tālivaldis Ķeniņš (1919-2008) auf Ondine schreitet voran. Und mit jeder CD erscheinen einerseits neue Aspekte dieses hochinteressanten – nach eigener Einschätzung – Eklektikers, der freilich über ein ganz außerordentliches Handwerk aller modernen Techniken verfügte.
Zusammengebracht hat sie niemand geringerer als Daniel Hope in seiner Sendung „Hope@home“, in der er Musikerinnen und Musiker quasi ins heimische Wohnzimmer einlud in Zeiten, in denen an ein öffentliches Auftreten vor Publikum nicht zu denken war. Nun bringen der junge französische Bratschist Adrien La Marca und die deutsche Pianistin mit griechischen Wurzeln, Danae Dörken, ihr erstes gemeinsames Album heraus. „Chanson bohème“ ist der Titel und zugleich das Programm.
Für die vierte Folge seiner Gesamteinspielung der Mozart-Quartette kombiniert das Armida-Quartett drei frühe 1773 – kurz nach dem Lucio Silla – in Mailand entstandene Werke mit dem dissonanten Abschluss der 6 Haydn gewidmeten Kompositionen. Als Textgrundlage dient die Neuedition der Werke nach dem Autograph. Der Band mit den Mailänder Quartetten erschien mit beratender Mitwirkung der Armidas im Frühjahr dieses Jahres, ist also quasi druckfrisch.
Mit dem Nachnamen Müller bei der Zunft der Musikliebhaber zu reüssieren, dürfte schwer fallen. Trotzdem setzt Tatjana Ruhland ihre Einspielung der Flötenkonzerte von August Eberhard Müller (1767-1817) mit drei weiteren spannenden Werken fort. Sie sind beileibe nicht schlechter komponiert als die zwei eher leichtgewichtigen Mozart-Konzerte und stoßen in den beiden Moll-Stücken bereits das Tor zur Frühromantik auf.
Johann Daniel Pucklitz (1705-1774) war Danziger Bürger und in seiner Vaterstadt ein Hansdampf in allen Gassen: Kellermeister und Ratsmusiker, Impresario und Musikmanager, Konzertveranstalter und Komponist – und überdies ein tiefgläubiger evangelischer Christ. Sein auf eigene Kosten und somit eigenes Risiko entstandenes Œuvre präsentierte er seinen selbstbewussten Mitbürgern; dabei hinterließ er auch etliche geistliche Kompositionen:
Alchemie der Klänge - Das Heidelberger Tabulaturbuch auf die Lauten
Sebastian Ochsenkun, Alchemie der Klänge - Das Heidelberger Tabulaturbuch auf die Lauten
cpo 555 267-2
1 CD • 60min • 2019
03.01.2022 • 10 10 10
Niemand kennt heute noch Sebastian Ochsenkun (1521-1574) – das mag an seinem Instrument, der Laute, liegen, die bis in das Zeitalter des Barocks zu den Hauptinstrumenten eines jeden Ensembles gehörte, im Verlauf des 18. Jahrhunderts aber schnell an Bedeutung verlor. Spätestens dann geriet Ochsenkuns Musik in Vergessenheit – ganz unverdientermaßen, wie diese CD zeigt, die seinem bemerkenswerten Schaffen gewidmet ist.
Dass Trompete und Orgel eine reizvolle Klangkombination ergeben, ist mittlerweile Allgemeingut. Aber Posaune und Orgel? Gibt es für diese Besetzung überhaupt Literatur? Nun, von den „großen“ Komponisten sicherlich nicht. Wenn man jedoch lang genug gräbt, stößt man auf den Nachlass des ersten deutschen Professors für Posaune, Paul Weschke (1867-1940), der sich in der Berliner Staatsbibliothek befindet und einige reizvolle Werke bietet. Hierbei handelt es sich um Kompositionen, die von Posaunisten für den Eigenbedarf geschrieben wurden, sich im Rahmen des romantischen Virtuosenstücks bewegen und teilweise fremdes Material spieltechnisch anspruchsvoll paraphrasieren.
Tiefe Streicher, die sich aus der Tiefe hervorarbeiten, hinzu kommen immer mehr weitere Streicher, doch so ganz will man das Stück noch nicht wiedererkennen. Es handelt sich um Astor Piazzollas Tangazo, das auf der neuen CD von Isabelle van Keulen mal ganz anders erklingt. Für die niederländische Geigerin ist die bei Berlin Classics erschienene Aufnahme eine Herzensangelegenheit: 2011 gründete sie gemeinsam mit dem Bandoneonisten Christian Gerber, dem Kontrabassisten Rüdiger Ludwig und der Pianistin Ulrike Payer das Isabelle van Keulen Ensemble, mit dem sie sich auf Tango nuevo und vor allem die Musik von Astor Piazzolla spezialisiert hat.
Ob man es nun Schicksal oder Zufall nennt, manchmal nimmt das Leben seltsame Wendungen, die aber weitreichende Auswirkungen haben können. Etwa im Falle von Astor Piazzolla: der argentinische Komponist verbrachte seine Kindheit in New York, wo sein Vater Frisör war und er bei einem ungarischen Nachbarn, einem Komponisten, Musikunterricht bekam. Als Gegenleistung wurde dieser von der Mutter Piazzollas verköstigt. Ein zweifelsohne ungewöhnliches Honorar, das sich langfristig aber zweifellos bezahlt machte. Piazzollas frühe musikalische Bildung hatte noch nicht das Geringste mit Tango zu tun, doch genau dafür wurde er später berühmt.
Wer in den 1990er Jahren die Veröffentlichungen des mittlerweile längst von der Bildfläche verschwundenen, auf sowjetische Musik spezialisierten Labels Olympia verfolgt hat, dürfte mit dem Namen Gawriil Popow (1904–1972) etwas anzufangen wissen (i.W. drei sehr bemerkenswerte CDs). Später hat das Petersburger Label Northern Flowers noch ein paar Einspielungen folgen lassen, doch letztlich ist Popow nach wie vor ein eher unbeschriebenes Blatt. Dabei tragen seine besten Werke (zu denen ich ebenso wie Boris Yoffe im Beiheft die Sinfonien Nr. 1, 5&6 zählen würde) genialische Züge, ein echter Sinfoniker, große, ambitionierte, hochexpressive Musik.
Grand Concert • Theme and Variations • Souvenir de Norvège
Anton Edvard Pratté, Grand Concert • Theme and Variations • Souvenir de Norvège
BIS 2570
1 CD/SACD stereo/surround • 74min • 2020
21.01.2022 • 10 10 10
Kaum jemand in der Musikszene kennt heute den Namen Anton Edvard Pratté, es sei denn, er oder sie wäre auf Harfenmusik spezialisiert. Seine Lebenszeit währte von 1796 bis 1875, und zu Lebzeiten gehörte er zu den berühmtesten Harfenvirtuosen. Geboren wurde Pratté im böhmischen Haida (heute Nový Bor in Tschechien) unter dem Namen Johann Georg Pratte als Sohn von Anton Pratte, der seinen tschechischen Namen Antonín Brát bereits eingedeutscht hatte und ein reisendes Puppentheater betrieb.
Severin von Eckardstein, mit mittlerweile 43 Jahren eigentlich nach wie vor ein Pianist der jüngeren Generation, hat sich während seiner gesamten bisherigen Laufbahn immer wieder für russische Komponisten wie Skrjabin, Glasunow oder Medtner eingesetzt. Mit seiner neuesten Veröffentlichung knüpft er daran an, indem er sich nun mit Sergei Prokofjews Klaviersonaten Nr. 6 bis 8, den sogenannten „Kriegssonaten“, drei Gipfelwerken der sowjetischen Klavierliteratur widmet. [...]
Dieser Pianist ist eine Entdeckung – und es ist selten, dass sich so etwas schon bei den ersten Tönen in solcher Klarheit offenbart: Julius Asal transportiert in seinem Spiel elementare Energien, denen es an künstlerischer Überzeugungskraft niemals fehlt. Auch und gerade, wenn er bei seinem Programm für dieses CD-Debüt in bestem Sinne „groß“ denkt. Es geht auf dieser Aufnahme um Sergej Prokofievs gesamte Ausdrucksbandbreite.
Öfter zitiert als durchdacht wird Goethes Skriptum über das Quartettspiel, man höre da „vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten“ und „glaubt, ihren Diskursen etwas abzugewinnen“: passiert doch in den Streichquartetten von Haydn und Mozart soviel an sprachlichem Handeln gleichzeitig, dass eher handfeste Sprachverwirrung herrschen würde. Perfekt hingegen passt die Diskursmetapher auf das vorliegende Album mit Fantasias von Henry Purcell, dessen Musik Goethe im Rahmen der damals grassierenden Shakespeare-Begeisterung kennengelernt hat.
Die russisch-orthodoxe Liturgie zeichnet sich von jener durch einen besonders erhabenen und würdevollen Gestus aus. Oft dauern die Liturgien Stunden, die die Gläubigen eisern im Stehen absolvieren müssen. Auch die musikalische Seite ist für katholisch oder evangelisch sozialisierte Christen immer wieder faszinierend: Instrumente fehlen ganz und auch die Faktur der zu hörenden Chormusik ist deutlich schlichter als hierzulande. Wobei schlichter nicht anspruchsloser meint, denn das ist diese Musik gewiss nicht.
Oxana Shevchenko und Christoph Croisé feiern in ihrem zweiten gemeinsamen Album den schweizerischen Komponisten Joachim Raff, der vor 200 Jahren am Ufer des Zürichsees das Licht der Welt erblickte. Er gehörte zu Lebzeiten zu den im deutschen Sprachraum meistaufgeführten Tonkünstlern. Sein Ruhm verblasste nach seinem Tod 1882 jedoch schnell. Heute kennt man allgemein nur noch seine Cavatina op. 85,3 als sentimentales Encore der Geiger.
Nachdem der Rezensent hier vor knapp drei Jahren die Einspielung der drei letzten Klavierkonzerte (Nr. 3-5) von Camille Saint-Saëns mit Vater und Sohn Kantorow zur unangefochtenen Referenzaufnahme gekürt hatte, legen die beiden nun mit der finnischen Tapiola Sinfonietta, die zur Hauptstadtregion gehört, nach: Auf der neuen CD – mit 85 Minuten Überlänge – finden sich die noch fehlenden Klavierkonzerte Nr. 1 & 2 sowie alle vier übrigen Kompositionen Saint-Saëns‘ für Klavier und Orchester.
Alessandro Scarlatti, Ten Toccatas and other works for Harpsichord
cpo 555 401-2
1 CD • 57min • 2019
23.02.2022 • 10 10 10
Betrachtet man die Würdigung, die Alessandro Scarlatti (1660-1725) und sein Sohn Domenico (1685-1757) heute genießen, gilt Vater Scarlatti als begnadeter Opernkomponist, Domenico verdankt seine Berühmtheit in erster Linie seiner Musik für Cembalo solo, von der er ein reiches Œuvre von mehr als 550 Kompositionen hinterlassen hat – Werke höchster Virtuosität, die zu den Juwelen der Claviermusik des 18. Jahrhunderts zählen.
Domenico Scarlatti wurde in dem für die Musikgeschichte so bedeutenden Jahr 1685 geboren, in dem auch J. S. Bach und G. F. Händel das Licht der Welt erblickten. Bedenkt man, mit welcher außerordentlichen Individualität sie ihre jeweilige künstlerische Sendung erfüllten, enthüllt sich das – inzwischen glücklicherweise meist veraltete, aber immer noch nicht ganz überwundene – Vorurteil der Gleichförmigkeit der Musik vor 1750 als pure Polemik im Dienste eines neu entdeckten „schöpferischen Individuums“.
Domenico Scarlatti, Complete piano sonatas Volume 7
Tacet 271
2 CD • 2h 20min • 2021
14.04.2022 • 10 10 10
Vergleichsweise langsam kommt Christoph Ullrich mit seinem Projekt voran, alle Klaviersonaten von Domenico Scarlatti einzuspielen. Seit dem Beginn der Sitzungen 2011 sind erst insgesamt 14 CDs erschienen; mit den 30 Sonaten K. 236 – 265 der nun vorliegenden Folge Nr. 7 ist damit nach 11 Jahren noch nicht einmal die Hälfte des Sonaten-Kosmos´ erkundet. Dazu ist Christoph Ullrich zu gratulieren. Natürlich hat der erfahrene Pianist, bald Mitte sechzig, bei diesen Werken keine technischen Schwierigkeiten zu überwinden und könnte somit schon längst fertig sein.
Das finnische Nationalepos Kalevala, das der Arzt Elias Lönnrot 1835 auf Grundlage selbstgesammelter Volksdichtungen geschaffen hatte, inspirierte ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Komponisten zu musikalischen Werken. Das Verdienst, die Geschichten der Kalevala-Gesänge international unter Musikfreunden bekannt gemacht zu haben, kommt dabei zweifelsohne Jean Sibelius zu, der sich von ihnen während seiner gesamten Schaffenszeit zu symphonischen Kompositionen inspirieren ließ (Kullervo-Symphonie, Lemminkäinen-Legenden, Pohjolas Tochter, Luonnotar, Tapiola).
Enjott Schneider ist einer der produktivsten Orgelkomponisten unserer Tage. Sechzehn Orgelsymphonien gehen auf sein Konto, zahlreiche andere Orgelwerke ebenfalls. Die hinreichend bekannte Toccata über Schlafes Bruder ist nur eines von vielen. Der Münchner Pianist und Organist Jürgen Geiger hat nun die 2. und die 15. Orgelsymphonie Schneiders aufgenommen, zusammen mit dem Zyklus Baumbilder, der sieben musikalische Portraits von Bäumen und deren Charakteristika umfasst.
Das Morgenstern Trio setzt seine Reihe mit kombinierten Einspielungen der Klaviertrios von Franz Schubert und Robert Schumann nach fünf Jahren fort. Bereits die erste Folge dieser Reihe war vom Kollegen Michael B. Weiß glänzend rezensiert worden. Nun kann ich mich seiner damaligen Einschätzung zu 100 Prozent anschließen, zumal die von ihm monierte Basslastigkeit hier vermieden wurde. Es handelt sich um eine der seltenen Aufnahmen, die sich spontan als so schlüssig erweisen, dass das Bedürfnis nach Vergleichen gar nicht erst aufkommt, so herrlich leuchtete der Morgenstern alles aus.
Mihaela Martin und Elena Bashkirova wählten für ihre erste gemeinsame CD die drei gemeinhin als „Sonatinen“ bezeichneten „mozartisierenden“ Violinsonaten aus dem Jahre 1816 von Franz Schubert sowie dessen zehn Jahre später entstandenes Rondo brillant op. 70. Es gelang ihnen eine farblich reiche, lyrisch-gesangliche, anrührende und – wo erforderlich – temperamentvolle Interpretation. Schubert war bereits mehrfach mit großangelegten Klaviersonaten gescheitert und hatte diese unvollendet zur Seite gelegt, als er sich entschloss, drei Duo-Sonaten mit geringeren technischen Anforderungen in der Nachfolge Mozarts und Haydns zu komponieren.
Sérgio Pires und Kosuke Akimoto hatten für ihr gemeinsames Debüt-Album die wundervolle Idee, neoklassizistische französische Klarinettensonaten mit Werken zweier zentraler älterer Komponisten zu verbinden. Dies bietet dem Hörer Gelegenheit, sich binnen einer guten – dabei höchst vergnüglichen – Stunde einen Überblick über die gallische Manier der Klarinettenkomposition mit traditionellen Mitteln zwischen 1910 und 1978 zu verschaffen und dabei sonst selten zu hörende Werke kennenzulernen.
Dieses Programm von Kammermusik aus der Feder von Georg Philipp Telemann haben die Musiker Christian Heim (Blockflöte und Viola da Gamba) sowie Avinoam Shalev (Cembalo) unter den Titel „Intimissimo“ gestellt: Sehr stimmig, denn es vereint Musik für zwei Interpreten in abwechslungsreicher Solo- und Duobesetzung; Flöte und Gambe solo oder jeweils mit Basso Continuo, sowie ein ursprünglich für Violine geschriebenes Concerto TWV 51:91, dessen Solopart von Bach für Cembalo bearbeitet wurde und dem Werk zusätzlich die Nummer BWV 985 im Bach-Werkeverzeichnis einbrachte.
Die Hamburger Kirchenbesucher müssen zu Telemanns Zeiten gerne auf den harten Kirchenbänken verweilt haben, um beim Gottesdienst ganze Oratorien zu hören. Die harten Kirchenbänke dürften ihnen aber gleichgültig geworden sein, wenn sie die beiden Oratorien gehört haben, die Michael Alexander Willens und seine Kölner Akademie hier eingespielt haben: Wieder ein programmatischer Glücksgriff und wieder eine absolut saubere, stimmige, dramatische und stilistisch perfekte Einspielung! Und wieder kann man sich nur wundern über Telemanns schier unerschöpfliche kompositorische Phantasie, über seinen Einfallsreichtum bei der Vertonung eines geistlichen Textes
Georg Philipp Telemann, Pimpinone oder Die ungleiche Heirat
cpo 555 394-2
1 CD • 71min • 2020
25.04.2022 • 10 10 10
Es verwundert, dass von Georg Philipp Telemanns Commedia-dell‘-Arte-Adaption Pimpinone bisher nur wenige Aufnahmen existieren, handelt es sich doch um ein Bravour-Stück für zwei Gesangsvirtuosen mit Streicherbegleitung, das so eingängig wie komisch ist. Deshalb darf man für diese Neuaufnahme mit Marie-Sophie Pollak, Dominik Köninger und den Streichern der Akademie für Alte Musik Berlin mehr als dankbar sein. Dass Telemann hier mit „größter Lust“ bei der Sache war und zu Hochform auflief, erklärt sich auch aus dessen Biographie.
Francesco Maria Veracini, Overtures & Concerti Vol. 3
cpo 555 241-2
1 CD/SACD • 58min • 2018
07.02.2022 • 10 10 10
Federico Guglielmo und sein Ensemble L’Arte del Arco bringen mit Vol. 3 ihre Einspielung der Ouvertüren und Concerti des höchst eigensinnigen Florentiners Francesco Maria Veracini (1690-1768) zum exzellenten Abschluss. Da die Concerti bereits komplett aufgenommen waren, ergänzen zwei Violinsonaten das Programm. Dabei zeichnet sich die Aufnahme durch temperamentvoll-feuriges, dynamisch höchst flexibles Streicherspiel von unglaublicher Wachheit aus. Gute-Laune-Ouvertüren garniert mit melancholischen Sonaten.
Matthias Weckmann, Eleven Sonatas for the Hamburg Collegium Musicum
cpo 555 217-2
1 CD • 58min • 2018
09.05.2022 • 10 10 10
Als Matthias Weckmann (1621–1674), Organist an der Hamburger Hauptkirche St. Jacobi, starb, war die einhellige Meinung, dass mit seinem Dahinscheiden eine glanzvolle Epoche in der Musikgeschichte der Hansestadt zu Ende gegangen war. Die Zeitgenossen maßen Weckmann als Komponisten einen außerordentlich hohen Rang zu, verband er doch in seinem Schaffen die unterschiedlichsten Traditionen zu einer höchst eigenwilligen und zugleich expressiven Musiksprache. 1621 als Sohn eines Pfarrers im thüringischen Niederdorla geboren, trat er im Alter von zehn Jahren als Diskantist in die kursächsische Hofkapelle in Dresden ein, wo Heinrich Schütz als Hofkapellmeister wirkte, den Weckmann zeitlebens als seinen „väterlichen Freundt“ verehrte.
Werman Merkel Reger, Complete Works for Violoncello and Organ
MDG 903 2206-6
1 CD/SACD stereo/surround • 73min • 2020
08.02.2022 • 10 10 10
Es ist die Kombination zweier ungleicher Partner: Orgel und Cello. Erstere kann infernalische Klanggewalten entfesseln aber auch sanft säuseln, Letzteres ist ein Synonym für melodischen Schmelz hat aber eindeutig das Nachsehen, wenn es um die Klanggewalt geht. Das muss aber kein Nachteil sein. Dass so etwas gut gehen kann, zeigt die vorliegende Einspielung mit Musik für Orgel und Cello, die der Organist Gordon Safari und die Cellistin Hannah Vinzens eingespielt haben.