György Kurtág
Complete Flute Music
Markus Brönnimann and friends

Tacet 281
1 CD • 52min • 2024
05.06.2025
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
„Jetzt, im Sommer 2024, ist meine Beschäftigung mit György Kurtags Flötenmusik vorerst abgeschlossen. Ich habe jede Note dreimal umgedreht und versucht, mich in seine Denkweise und Welt hineinzuversetzen. Ich habe versucht, eins zu werden mit dieser Musik, so wie Kurtág dies von seinen Studenten immer verlangt hat. Alle diese Stücke zu lernen, war nicht nur eine Herausforderung, Kurtágs Musik hat mir auch sehr viel zurückgegeben und mich glücklich gemacht. Möge es dem Hörer gleich ergehen“ – schreibt der auf diesem Album agierende Schweizer Flötist Markus Brönnimann im Booklet. Um es gleich vorweg zusagen: Ja, das Hören dieser Musik und die Beschäftigung mit der CD haben mich glücklich gemacht, sehr sogar. Dies umso mehr, als ich das bei dem – in der Musikwelt nicht überall beliebten – Instrument Flöte in dieser Intensität nicht erwartet habe. Den hervorragenden und sehr ausführlichen Booklet-Text sollte man vor dem Anhören des Albums unbedingt lesen; das Herzblut des Solisten spürt man darin genauso wie in den Lesarten, die er und seine (auf dem Front-Cover ausdrücklich „Friends“ genannten) Mitmusiker hier abliefern und die Rezeption der Werke zu einer Reise zum Mittelpunkt von Kurtágs klingendem Miniatur-Kosmos‘ werden lassen.
Klingende Konzentrate
„Meine Muttersprache ist das Stammeln“, soll Kurtág einmal gesagt haben. Tatsächlich ist das Wesen seiner Musik damit adäquat umschrieben. Stammeln meint hier allerdings nicht ein zusammenhangloses staccatohaftes Sprechen, sondern im Gegenteil die Artikulation von substanziellen, auf das Wesentliche konzentrierten (musikalischen) „Sachverhalten“, frei von Redundanzen und ohne schmückendes Beiwerk. Anton Webern und überhaupt die Zweite Wiener Schule werden hier gerne als Galionsfiguren genannt, und selbstverständlich ist auch Kurtág in deren Schule gegangen. Da er aber keinen wesensmäßigen Unterschied zwischen tonaler und atonaler Musiksprache macht und darüber hinaus einer der ganz wenigen wirklich originalen Komponisten der Gegenwart ist, dem es gelingt, das gesamte Erbe der Musiktradition – sozusagen von Bach bis Bartók, um zwei seiner wichtigsten Bezugsgrößen zu nennen – in sein eigenes „System“ zu überführen, hat er sich auf seine ureigene Weise von allen Schulen emanzipiert. Auch wenn Kurtág im wahrsten Sinne des Wortes mit den großen Vorbildern spielt – Játékok (Spiele) lautet der Titel einer seiner wichtigen Klavierzyklen –, so ist seine Musik bei allem Anspielungsreichtum nie postmodernistisch. Begriffe wie Collage, Zitat, Travestie, Stilmix oder irgendwas mit „Neo-“ (-Klassik, -Romantik, -Impressionismus) gehen komplett am Kern von Kurtágs Kunst vorbei. Brönnimann spricht in Bezug auf den Komponisten und sein Verfahren von der „Fähigkeit des Aushorchens“ und der „Kunst des Verdichtens“, und er trifft damit ins Schwarze, zumal die Wörter „Zuhören“ und „Dichten“ darin impliziert sind. Denn Kurtágs Werke sind immer auch dialoghaft, sie führen ein dem eigenen Schaffen stets schon vorausliegendes (musikalisches) „Gespräch“ weiter, da sie, wie Brönnimann zeigt, die ganz grundsätzliche Frage stellen: „Mit welchem Ton beantworte ich die erste Note?“ In diesem Sinne erschaffen Kurtágs Kompositionen Resonanz-Räume, um es mit dem Soziologen Hartmut Rosa zu sagen, die den Rezipienten einladen. Er darf und soll sich auf das „Gesagte“ einlassen und (im ursprünglichen Sinne des Wortes von „resonare“) mitschwingen.
Bagatellen und Botschaften
Insgesamt fünf Zyklen sind auf dem Album zu hören. In der Reihenfolge ihrer Entstehung sind das: Die kleine Klemme (1978) für Piccoloflöte, Posaune und Gitarre; Herdecker Eurythmie (1979) für Flöte und (moderne) Leier, ein der antiken Lyra nachempfundenes Zupfinstrument; Bagatellen (1982) für Flöte, Kontrabass und Klavier und Szenen (1997) für Flöte solo. Die Sammlung Signs, Games and Messages für Flöte solo und Flöte mit diversen Begleitinstrumenten (z.B. zweiter Flöte, Alt- und Bassflöte, Klavier und Bariton) entstand über einen längeren Zeitraum und erklingt auf der CD nicht am Stück, sondern in zwei Teilen, was ich für einen genialen Schachzug halte. Dass die Werke nicht in chronologischer, sondern (scheinbar) zufälliger Abfolge erklingen, beginnend mit dem frühen Opus 14/d (Bagatellen) und endend mit dem Opus 15b (Die kleine Klemme), entpuppt sich beim Hören ebenfalls als intuitiv einleuchtend. Besser als mit den verröchelnden Posaunenklängen am Schluss von Nachtstück, dem letzten Satz der Kleinen Klemme, hätte das Album kaum enden können.
Fast alle Sätze der Werke tragen mehr oder weniger „sprechende“ Titel wie z.B. A Faltering Confession, Blumen die Menschen oder Joli oiseau; einige beziehen sich direkt auf Vorbilder wie etwa Hommage à J. S. B., Fanfare in the Manner of Mussorgsky oder Hymn in the Manner of Stravinsky. Immer geht es im Sinne des oben Gesagten darum, auf kleinstem Raum eine Bühne zu erschaffen, auf der sich das Instrument bzw. die Instrumente in „Scene“ setzen, um in zugleich hochkonzentrierter und spielerischer Form „Signs“ und „Messages“ an den Hörer zu senden, die dieser interpretieren, in seiner Vorstellungskraft ergänzen und zu (s)einem Konzept formen soll.
Es ist den ausgezeichneten Musikern, allen voran dem Flötisten Markus Brönnimann, zu verdanken, dass sowohl die Botschaften, die Kurtágs Musik aussendet, als auch das Konzept des Albums auf eine geradezu beglückende Art und Weise aufgehen. Die tiefe Vertrautheit Brönnimanns mit dieser Musik ist jedem Ton abzulauschen, intensiver geht es kaum. Ein weiteres Plus dieser CD ist ihre fantastische Akustik, die dazu beiträgt, dass auch allerkleinste Nuancen dieser unaufgeregt-aufregenden Musik intensiv erfahrbar werden.
Dr. Burkhard Schäfer [05.06.2025]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
György Kurtág | ||
1 | Sechs Bagatellen op. 14d | 00:07:42 |
7 | Scenes op. 39 | 00:14:06 |
16 | Signs, Games and Messages (1) | 00:10:20 |
21 | Herdecker Eurythmie op. 14a | 00:04:07 |
26 | Signs, Games and Messages (2) | 00:08:53 |
33 | Die kleine Klemme op. 15b | 00:06:24 |
Interpreten der Einspielung
- Markus Brönnimann (Flöten)
- Aniela Stoffels (Flöte)
- Christoph Nussbaumer (Flöten)
- Ilka Emmert (Kontrabass)
- Michael Kleiser (Klavier)
- Guillaume Lebowski (Posaune)
- Hany Heshmat (Gitarre)
- Thomas Leins (Lyra)
- Michel Souza (Flöte)