Michael Gielen Edition 7
Aufnahmen 1961-2006
SWRmusic SWR19061CD
8 CD • 9h 46min • 1961-2006
22.05.2018
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
War Michael Gielens Außenseiterstellung in seiner künstlerische Konsequenz begründet? Gielens Hauptbetätigungsfeld war nicht so sehr der freie Musikmarkt mit seiner spezifischen Logik, sondern umso mehr der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit seinem Bildungsauftrag und sorgsam geförderten Klangkörpern – allen voran den Sinfonieorchestern des SWR und dem Radio-Sinfonieorchester Saarbrücken. Was lange in den Rundfunkarchiven geschlummert hat, wird seit 2016 in einer vorbildlichen Reihe aus umfangreichen CD-Boxen wieder veröffentlicht.
Folge 7 dieser Edition bildet Michael Gielens vielfältige Perspektiven auf die künstlerische Aufbruchstimmung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab. Gielens Haltung wird aus der gewählten Zusammenstellung einmal mehr klar: Wer von beginnender Moderne redet, der blickt auf ein pluralistisches Miteinander aus Haltungen, Nationalstilen, Bezügen zur Tradition und deren Überwindung, um künstlerische Handschriften von Komponisten, aber auch um prekäre Schaffensbedingungen in repressiver Zeit.
Die erste CD lenkt den Blick nach Prag, als ein gewichtiges künstlerisches Zentrum, welches Gielen besonders am Herzen lag. Eine (Wieder-) Entdeckung für sich ist hier Leos Janáceks Glagolitische Messe – ein Werke, das sich von alten Traditionen des geistlichen Oratoriums löst und wo Chor und Orchester unter Leitung ihres Maestro zur eindringlichen Höchstform auflaufen und diesen ruhelosen, spirituell aufgeladenen Kosmos wie einen Weckruf inszenieren. Auch Alexander Zemlinskys 23. Psalm macht erfahrbar, wie intensiv Gielen seine Vision einer akribischen Durchdringung auch mit Chören verfolgte.
Die musikalische Moderne Amerikas ist ebenfalls ein Thema, wenn es um Pluralität der Auffassungen geht. Das zeigen die Unterschiede der verschiedenen Werke auf einer CD eigens zu diesem Thema. Im Orchesterstück Sun Treader von Carl Ruggles macht das SWR-Sinfonieorchester erfahrbar, wie stark viele Einflüsse aus Europa auf die neue Welt ausstrahlen. Genau das Gegenteil, nämlich die Emanzipation einer unabhängigen, in jeder Richtung offenen Ästhetik in Amerika, arbeiten die SWR-Sinfoniker in Charles Ives berühmten Klassikern Central Park in the Dark und The unanswered Question heraus. Ives und viele seiner Zeitgenossen führen Spieler und Hörer an das Ideal eines unmittelbaren Klanges heran. Gielen schwört das Orchester, vor allem die Streicher, auf schillernde, elektrisierend unmittelbare Zustände ein. Ein solcher Wille zur „freien Schönheit“ war auch manchen im Jahr 1975 spielenden Musikern erst noch zu vermitteln, wie Gielen in vielen Gespräch bekundet hat.
Im selben Geiste bedient sich Colin Mc Phees Klavier- Orchesterstück Tabuh-Tabuhan aus der balinesichen Gamelan-Musik – und nimmt zugleich die amerikanische Minimal Music vorweg.
So repräsentativ sie ist, so subjektiv spiegelt die CD-Box die ambitionierten Herzensprojekt des heute 90 Jahre alten Michael Gielen wider. Wer von grundsätzlicher Erneuerung der Musik im 20. Jahrhundert spricht, kann von Debussy nicht schweigen. Gielen bietet hier einmal mehr eine Repertoire-Überraschung, die schon für sich den Kauf dieser Zusammenstellung rechtfertigt, nämlich das Oratorium Le Martyre de Saint Sebastien nach einem religiösen Text von Gabriele d Annunzio. Der hier entstehende aufwühlende Kosmos aus tief berührenden und exquisit besetzten Gesangsparts lebt von einer aufregenden Spannung zwischen narrativer Struktur und unmittelbare Klangwirkung.
Auch beiBusoni schwört Gielen sein Orchester auf die für ihn typische kristalline Klarheit ein, welche aber umso tiefer in die Emotionen, Stimmungen und instrumentalen Farben eindringt. Maximale Ausdrucksdichte wird aufgetürmt,wenn es um das spätromantische Erbe geht, etwa in einem Klavierkonzert von Max Reger – und dann sind da wieder jene feinsinnigen Transformationsprozesse zwischen dem Alten und dem Neuen, wie etwa bei Franz Schreker. Aber der von Gielen dirigierte und respektvoll, analytisch, manchmal gar etwas kühl aufspielende Klangkörper kann auch die Muskeln spielen lassen, vor allem wenn jene schroffen Affekte in Paul Hindemiths Sinfonie Mathis der Maler schonungslos herausgemeißelt werden.
Dies sind nur einige Beispiel dieser Entdeckungsreise, die zusammengenommen gut und gerne 10 Stunden Musik umspannt. Maurice Ravel wird ebenso ausgiebig gehuldigt, es geht um Kunst und Kitsch, wenn Gielen auf einer eigenen CD verschiedene Opern-Klassiker präsentiert, oder vielleicht sogar diskutiert.
Der hier erlebbare, aber nie beliebige, weil historisch beziehungsreiche Bogen findet schließlich sein Finale in Maurice Ravels La Valse. Er war ein Abgesang auf das 19. Jahrhundert, vor allem auf dessen plüschige Walzer-Dekadenz. Die sarkastischen Brechungen dieser Musik treten unter Gielens Dirigat subtil und mit hintergründigem Witz aber auch einer Portion Tragik hervor – nehmen diese Klänge doch eine Zeitenwende zu einem 20. Jahrhundert vorweg, welches die Menschheit und diesen Planeten unwiderbringlich verändert hat.
Stefan Pieper [22.05.2018]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Leoš Janáček | ||
1 | Glagolitische Messe für Soli, Chor und Orchester | 00:39:27 |
9 | Taras Bulba (Rhapsodie für Orchester nach Nikolai Gogol) | 00:22:05 |
Alexander Zemlinsky | ||
12 | 23. Psalm op. 14 | 00:10:27 |
CD/SACD 2 | ||
Carl Ruggles | ||
1 | Sun-Treader | 00:14:34 |
Charles Ives | ||
2 | Central Park in the Dark | 00:10:08 |
3 | General William Booths Enters into Heaven | 00:05:12 |
Colin McPhee | ||
4 | Tabuh-Tabuhan für 2 Klaviere und Orchester | 00:16:29 |
Charles Ives | ||
7 | The Unanswered Question | 00:05:21 |
Edgard Varèse | ||
8 | Arcana für großes Orchester (1925/1927) | 00:17:53 |
Eduard Steuermann | ||
9 | Variationen für Orchester | 00:08:20 |
CD/SACD 3 | ||
Claude Debussy | ||
1 | Le Martyre de Saint Sébastien für Solisten, gemischten Chor und Orchester (Bühnenmusik zum Mysterium in fünf Akten von Gabriele d'Annunzio, 1911) | 00:52:42 |
6 | Trois Nocturnes - Triptiche symphonique L 98 für Orchester und Frauenchor | 00:25:02 |
CD/SACD 4 | ||
Ferruccio Busoni | ||
1 | Berceuse élégiaque op. 42 BV 252a | 00:07:22 |
2 | Nocturne symphonique op. 43 K 262 | 00:06:52 |
3 | Zwei Studien zu Doktor Faust op. 51 Nr. 2 | 00:18:05 |
Max Reger | ||
4 | Klavierkonzert f-Moll op. 114 | 00:41:41 |
CD/SACD 5 | ||
Franz Schreker | ||
1 | Vorspiel zu einem Drama | 00:18:39 |
Paul Hindemith | ||
2 | Sinfonie Mathis der Maler | 00:26:41 |
Goffredo Petrassi | ||
5 | Konzert für Orchester Nr. 1 | 00:22:39 |
CD/SACD 6 | ||
Richard Strauss | ||
1 | Mir ist die Ehre widerfahren (Überreichung der Rose und Szene Sophie - Oktavian, 2. Akt) | 00:06:56 |
Giacomo Puccini | ||
2 | Un bel di vedremo (2. Akt, Arie der Butterfly - aus: Madama Butterfly) | 00:04:21 |
3 | Scuoti quella fronda (2. Akt, Duett Butterfly/Suzuki - aus: Madama Butterfly) | 00:12:51 |
Richard Wagner | ||
4 | Der Engel (aus: Wesendonck-Lieder) | 00:03:11 |
5 | Träume (aus: Wesendonck-Lieder) | 00:04:40 |
Richard Strauss | ||
6 | Wiegenlied op. 41 Nr. 1 für Sopran und Orchester | 00:03:42 |
7 | Tod und Verklärung c-Moll op. 24 (Paraphrase über Dies Irae für Klavier und Orchester, 1888/1890) | 00:27:50 |
CD/SACD 7 | ||
Maurice Ravel | ||
1 | Daphnis et Chloé (Symphonie choréographique) | 00:57:50 |
13 | Une barque sur l'océan für Orchester | 00:07:47 |
14 | Alborada del gracioso (aus: Miroirs) | 00:07:25 |
CD/SACD 8 | ||
1 | Valses nobles et sentimentales | 00:17:36 |
Alexander Scriabin | ||
9 | Sinfonie Nr. 3 C-Dur op. 43 (Le Divin Poème) | 00:45:56 |
Maurice Ravel | ||
12 | La Valse (Poème choréographique für Orchester) | 00:12:51 |
Interpreten der Einspielung
- SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg (Orchester)
- Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR (Orchester)
- Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken (Orchester)
- Michael Gielen (Dirigent)