From Buxtehude to JS Bach
Choral Cantatas around 1700
cpo 555 456-2
2 CD • 2h 29min • 2020
09.10.2023
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Das Münchner Barockensemble L’arpa festante bietet auf seiner neuesten Doppel-CD einen zweieinhalbstündigen Überblick über die zwischen 1670 und 1710 in der lutherischen Kirchenmusik beliebte Form der Choralkantate. Neben ein paar bekannteren Werken von Dieterich Buxtehude, Johann Pachelbel und J. S. Bach finden sich Ersteinspielungen von Komponisten wie Georg Österreich, Johann Samuel Welter, Emanuel Kegel und weiteren, deren Namen selbst Fachleute kaum mit konkreten Werken verbinden können.
Was ist eine Choralkantate
Im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts hätte man in der Kirche gern mehrteilige aus Chören und Arien bestehende Kompositionen gehört, wie man sie von den Hofopern und als weltliche Kammermusik bereits schätzen gelernt hatte. Dies scheiterte jedoch, da die strenge lutherische Orthodoxie darauf achtete, dass außer Bibeltexten und Chorälen nichts die Andacht störte. So waren die Komponisten gezwungen, eine Technik anzuwenden, die von Organisten schon Jahrzehnte zuvor entwickelt worden war: den Choral per versos, d.h. Choralmelodien strophenweise zu variieren. Satzmodelle waren in Samuel Scheidts Tabulatura nova und in den Choralfantasien von norddeutschen Orgelmeistern wie Heinrich Scheidemann und Jan Adam Reincken in Fülle zu finden.
Man konnte den Choral als Kantionalsatz in schlichter Form oder mit instrumentaler Figuration setzen, seine Melodie durch die unterschiedlichen Stimmen wandern lassen, aus den Anfängen der einzelnen Choralzeilen Motive abspalten, die sich für Vorimitationen oder auch für instrumentale Ritornelle eigneten. Schließlich war es erlaubt, zum Text eine völlig neue Melodie zu erfinden und den Cantus firmus den Instrumenten (meist 2 Violinen, 2 Violen da braccio oder da Gamba, Fagott, Basso Continuo mit zusätzlichen Bläsern nach Bedarf) zuteilen oder ihn einfach weglassen.
Tiefer Griff in die Schatztruhe
Die Werke, von denen die meisten von Hans Bergmann aus den Manuskripten für diese Einspielung erst aufführbar gemacht wurden, stammen vorwiegend aus der in Berlin aufbewahrten Sammlung Bokemeyer und aus dem Archiv der St. Thomas Kirche in Straßburg. Heinrich Bokemeyer war ein Schüler des Schleswiger Hofkapellmeisters Georg Österreich, an dessen Namen man sich vielleicht am ehesten noch als Tenor der Hamburger Oper am Gänsemarkt erinnert, der aber ein Komponist war, der sich hinter Pachelbel und Buxtehude nicht zu verstecken brauchte. Er stand später in Diensten des Herzogs von Braunschweig-Wolfenbüttel und hatte sein Notenarchiv dorthin mitgenommen, das später von Bokemeyer erworben wurde, der übrigens mit Bachs Vetter Johann Gottfried Walther über die Alchemie korrespondierte.
Alle eingespielten Werke sind hörenswert und geben Anregung für Programme für versierte Vokalensembles. Anspieltipp: Johann Samuel Welter (1650-1720) Wer nur den lieben Gott lässt walten (CD1 Tr. 7) und Jesu, meine Freude (CD2 Tr. 1).
Exzellente Interpretation
Thomas Gropper und Christoph Hesse entschieden sich, die Instrumentalpartien sowie die durchweg vier Vokalstimmen solistisch zu besetzen und die Vokalisten in den Kantionalsätzen mit vier Ripienisten zu verdoppeln. Das sorgt für ein authentisches Klangbild, da große Chorbesetzungen zur Entstehungszeit der Kompositionen in der evangelischen Kirchenmusik unüblich waren. Selbstverständlich trägt es auch erheblich zur Textverständlichkeit bei.
Die beiden Counter-Tenöre Franz Vitzthum und David Erler, der übrigens die Vokalwerke von Bachs Leipziger Vorgänger Johann Kuhnau ediert, präsentieren ihre Partien mit großem Können und musikalischer Intelligenz. Hansjörg Mammel und Thomas Gropper geben das virtuose, koloratursichere und klangschöne Fundament. Nur Miriam Feiersinger zieht – offensichtlich zwecks Vermeidung von Vibrato – ihr Mittelregister zu weit in die Kopfregisterregion und klingt deshalb in der Höhe ab e2 häufig grell. Auch ist ihre Intonation an einigen Stellen etwas getrübt.
Das Instrumentalensemble hingegen ist brillant und lässt auch bei sich wiederholenden Figuren, die leicht zum Geleier geraten können, niemals an energischer Intensität nach.
Wenn der Entdecker und Herausgeber der meisten Werke auch noch ein äußerst informatives Booklet schreibt, ist die Sache perfekt. Allerdings ist die englische Übersetzung von „Choralkantaten“ als „Choral Cantatas“, was „Chorkantaten“ bedeutet, etwas schief. Hier wäre man besser mit „based on Hymn tunes“ gefahren. Das Klangbild ist warm, was natürlich auch am fünfstimmigen Streichersatz mit zwei Violen liegt. Es könnte vielleicht eine Spur transparenter sein.
Fazit: Wer wissen will, wie sich die barocke Choralkantate vor J. S. Bachs berühmtem Jahrgang 1724/25 entwickelte, ist hier genau richtig. Wer interessante Musik jenseits von Buxtehude und Pachelbel erkunden will, ebenfalls. Vokalensembles finden hier neues Futter. Klare Empfehlung!
Thomas Baack [09.10.2023]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Dietrich Buxtehude | ||
1 | Nimm von uns, Herr, du treuer Gott BuxWV 78 (Choralkantate) | 00:15:21 |
Johann Topf | ||
2 | Mit Fried und Freud | 00:08:44 |
Johann Pachelbel | ||
3 | Was Gott tut, das ist wohlgetan (Kantate) | 00:09:08 |
Johann Valentin Meder | ||
4 | Ach Herr, mich armen Sünder (Choralkantate) | 00:10:43 |
Johann Philipp Krieger | ||
5 | Ein feste Burg ist unser Gott (Choralkantate) | 00:09:10 |
Emanuel Kegel | ||
6 | Meinen Jesum lass ich nicht (Choralkantate) | 00:11:54 |
Johann Samuel Welter | ||
7 | Wer nur den lieben Gott lässt walten (Choralkantate) | 00:09:35 |
CD/SACD 2 | ||
1 | Jesu, meine Freude (Choralkantate) | 00:11:49 |
Georg Österreich | ||
2 | Herr Jesu Christ, wahr' Mensch und Gott (Choralkantate) | 00:14:05 |
Christian August Jacobi | ||
3 | Komm, heiliger Geist (Choralkantate) | 00:10:36 |
Conrad Michael Schneider | ||
4 | Du Friedefürst, Herr Jesu Christ | 00:15:29 |
Johann Sebastian Bach | ||
5 | Christ lag in Todesbanden BWV 4 (Kantate zum Ostersonntag) | 00:22:43 |
Interpreten der Einspielung
- L'Arpa festante (Ensemble)
- Christoph Hesse (Dirigent)