Samuel Scheidt
Liebliche Krafft-Blümlein
cpo 555 513-2
1 CD • 59min • 2021
17.04.2023
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Samuel Scheidt (1587-1654), durchaus ein Name für wirkungsvolle Instrumentalstücke – besonders für Bläser – und die Orgelwerke der Tabulatura Nova, wird als Vokalkomponist immer noch unterschätzt. Abhilfe kommt jetzt aus St. Gallen mit der Weltersteinspielung aller 12 geistlichen Konzerte für zwei Singstimmen und Generalbass, die er im Jahre 1635 unter dem typisch barocken Titel „Liebliche Krafft Blümlein“ in Druck gab.
Neue Konkurrenz für Heinrich Schütz?
Samuel Scheidt erhielt den prägendsten Teil seiner Ausbildung in Orgelspiel und Komposition zwischen 1607 und 1609 bei Jan Pieterszoon Sweelinck (1561-1621), dem „norddeutschen Organistenmacher“, in Amsterdam. In seinen Vokalwerken kann Sweelinck als einer der letzten Ausläufer der franko-flämischen Schule angesehen werden. Diese Schulung und Scheidts spätere Zusammenarbeit als Hallenser Hoforganist mit dem von der italienischen Mehrchörigkeit faszinierten Hofkapellmeister Michael Praetorius (1571-1621) prägten seinen frühen Vokalstil. Die Werke dieser Zeit haben nie die Popularität der Vertonungen eines Johann Hermann Schein (1586-1630) oder Heinrich Schütz (1585-1671) – mit denen er die „Drei großen S“ der deutschen Musikgeschichte im 17. Jahrhundert bildet – erreicht, da sie allzu streng erscheinen und dem Affekt weniger Raum geben.
Umso erstaunlicher, dass die 12 geistlichen Konzerte auf Bibelkompilationen der „Lieblichen Krafft-Blümlein“, die auf eine offensichtlich intensive Beschäftigung mit dem 7. Madrigalbuch von Claudio Monteverdi (1567-1641) schließen lassen, so affektgeladen einherkommen. Scheidt nutzt das gesamte damals bekannte Repertoire an rhetorischen Figuren, um dem Hörer den Textinhalt auszulegen. „Singet dem Herren“ und „Ich freue mich“ sind als Ritornell-Form gebaut, wie wir sie aus der zeitgenössischen italienischen Oper kennen. Dissonanzenketten erhalten gelegentlich eine geradezu erotische Intensität („süßer denn Honig und Honigseim“, Track 9 gegen Ende). Ein Text wie „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen“ und „Sie haben am Abend das Weinen“ (Ende Track 5) wird in aller Schmerzlichkeit ausgedeutet, die der 30-jährige Krieg über die Menschen brachte. Witzig das eingestreute „Eia wär‘n wir da“ aus „In dulci jubilo“ in das Sommerstück „Herzlich tut mich erfreuen“. Bei höheren Anforderungen an die Sänger, was Intonation bei schnellen Tonartwechseln und Geläufigkeit anbelangt, sind sie somit den „Kleinen geistlichen Konzerten“ von Schütz mindestens ebenbürtig.
Wiederentdeckte Kostbarkeiten, neu belebt
Marie Luise Werneburg und Daniel Johannsen gelang mit ihrer famosen Continuo Gruppe Michael Wersin (Orgel), Andrea Cordula Baur (Chitarrone) und Bettina Messerschmidt (Violoncello und Violoncello piccolo) eine fulminante Ersteinspielung. Die Stimmen von Sängerin und Sänger harmonieren so perfekt, dass ich ein paar überflüssige eingeschobene „h’s“ gern ignoriere. Die Intonation ist makellos, es werden stilsichere Verzierungen angebracht und vor allem: der Text wird sauber artikuliert und in die Linie eingebunden, ohne dass überdeutlich Konsonanten gespuckt werden müssen. So etwas nennt man Stimmbeherrschung und Phrasierung aus dem Wortsinn. Bravo!
Ihr hohes Niveau beweist die Continuo-Gruppe nicht nur durch eine affektgemäße Ausgestaltung der Bezifferung, sondern auch durch die eingestreuten Werker von Johann Hieronymus Kapsberger (um 1580-1651) und Dieterich Buxtehude (1637-1707).
Aufnahmetechnisch wurde alles richtig gemacht. Der Booklet-Text des Spiritus Rector der Einspielung, Michael Wersin, ist lesenswert.
Fazit: Man wundert sich, dass diese delikaten Werke nicht eher eingespielt wurden. Allerdings ist die Quellenlage kompliziert: Das Werk wurde in drei Stimmbüchern gedruckt, deren Exemplare sich über mehrere Bibliotheken verteilen und nicht alle mehr lesbar sind. Eine moderne Edition findet sich nur in der Gesamtausgabe zu entsprechendem Preis. Hier wäre – zumal sie wegen der eher tiefen Tessitur auch für Mezzos und Baritone machbar sind – dringend eine praktische Ausgabe vonnöten. Somit: Es muss nicht immer Schütz sein! Klare und herzliche Empfehlung!
Thomas Baack [17.04.2023]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Giovanni Girolamo Kapsberger | ||
1 | Toccata ottava (aus: Libro Quarto d'Intavolatura di Chitarrone, Rom 1640) | 00:02:01 |
Samuel Scheidt | ||
2 | Herr, wenn ich nur dich habe | 00:03:06 |
3 | Wirf dein Anliegen auf den Herrn | 00:03:37 |
4 | Herr, lehre uns bedenken | 00:03:03 |
5 | Die Gütedes Herrn | 00:05:28 |
Dietrich Buxtehude | ||
6 | Sonate in D BuxWV 268 für Viola da gamba und B.c. | 00:04:44 |
Samuel Scheidt | ||
7 | Schaff in mir, Gott, ein rein Herz | 00:03:37 |
8 | Singet dem Herren ein neues Lied | 00:04:03 |
9 | ich freue mich über deinem Wort | 00:06:26 |
10 | Lobe den Herren, meine Seele | 00:03:45 |
Giovanni Girolamo Kapsberger | ||
11 | Toccata arpeggiata (Libro primo d'intavolatura di chitarone, Venezia 1604) | 00:02:05 |
Samuel Scheidt | ||
12 | Herr, wo dein Wort nicht mein Trost | 00:04:47 |
13 | Herzlich tut mich erfreuen | 00:06:42 |
15 | Machet die Tore weit | 00:02:29 |
16 | Ruhe getrost | 00:03:16 |
Interpreten der Einspielung
- Marie Luise Werneburg (Sopran)
- Daniel Johannsen (Tenor)
- Bettina Messerschmidt (Violoncello)
- Andrea Cordula Baur (Chitarrone)
- Michael Wersin (Orgel, Leitung)