Georg Philipp Telemann
Kantaten - Französischer Jahrgang Vol. 1
cpo 555 436-2
2 CD • 2h 24min • 2020, 2021
28.02.2022
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Da soll nochmal einer kommen wie das „Musikalische Conversationslexikon“ von Mendel-Reissmann (1878) und Georg Philipp Telemann „steife conventionelle Manier“ oder „Unzulänglichkeit seiner musikalischen Begabung“ vorwerfen und seine Musik als „Fabrikwaare“ schmähen oder gar wie Robert Eitner 1884 schimpfen, Telemann „dudelt ein Stück wie das andere herunter“! Diese Doppel-CD mit Telemann-Kantaten aus dem Französischen Jahrgang 1714/1715 widerlegt solche Schmach-Urteile aufs glänzendste.
Französisch in Tonart und Tanzrhythmus
Von 1712 bis 1721 amtierte Telemann als städtischer Musikdirektor und Kapellmeister an der Barfüßerkirche in der wohlhabenden Reichsstadt Frankfurt am Main, verdiente soviel wie sonst nirgends und komponierte so viel wie sonst nirgends: 72 Kantaten umfasst dieser Französische Jahrgang. Aber was meint hier „französisch“? Das sehr ausführliche und sehr kundige Booklet erklärt es: „Die Kantaten stehen durchgängig in der Grundtonart wie die Sätze einer Suite.“ Außerdem verwenden die Kantaten die Tanztypen der französischen Suite und französisch ist auch der „fließende Wechsel zwischen Chor und Soli“, wodurch sich reizvolle dialogisch-dramatische, ja durchaus opernhafte Effekte ergeben: Was man Bach in Leipzig bei seinen Passionen noch vorgeworfen hat, agiert Telemann hier fröhlich-selbstverständlich aus.
Mit mitreißend freudiger Frische
Felix Koch geht die Sache frisch an, sein Neumeyer Consort spielt stilsicher, temperamentvoll, rhythmisch straff und farbenfreudig, oft mit überrumpelndem Schwung. Die Gutenberg Soloists singen unmanieriert mit klarer Diktion, artikulieren und deklamieren wortdeutlich und wortausdeutend, die Solisten singen – alle mit sehr natürlichem und sympathischem Timbre – gleichsam aus dem Chor heraus, man wird nicht müde, allen zuzuhören, weil die freudige Frische nie nachlässt.
Kompositorische Herrlichkeiten entdeckt
Und was für Herrlichkeiten entdecken die Musikanten da für uns, dass Telemann höchst erfindungsreich und formenreich komponiert und sich hinter Bach beileibe nicht verstecken muss! Alleine die (oft Eingangs-)Chöre bieten eine Überraschung nach der anderen: Da verschmachten hochdramatisch Leib und Seele (CD 1, Track 4), da ist der Chor grandios aufgewühlt im Streit mittels einer Fuge aus repetierten Achteln (CD 2, Track 10), da marschiert der Chor in strengem Marschtritt in Jerusalem ein (CD 2, Track 27), tobt heftig in reinsten französischem Opernstil (CD 2, Track 22) oder singt gar „mit Schluckauf“, nämlich „zerschnitten“ im Hoquetus, einem Stilmittel aus dem Mittelalter (CD 1, Track 19).
Und fast jede Arie ist ein Juwel: Einmal klopfen und seufzen vier Blockflöten (CD 1, Track 2), dann tiktakt das Orchester wie beim Uhrenschlag (CD 1, Track 6), kadenziert absichtlich falsch, um die Falschheit auszudrücken (CD 1, Track 15), lässt mittels überschwemmenden Geigenfiguren das Herz vor Liebe wallen (CD 1, Track 22) oder mittels schäumenden Wellenfiguren des Fagotts die Schlangen und den Drachen sich aufbäumen (CD 2, Track 24) – und das Orchester peitscht geradezu den, der sich außer Christo Jesu einen Weg im Himmel sucht (CD 2, Track 30).
Aufgenommen wurden die Kantaten in einem Studio, dem SWR-Studio Kaiserslautern, gewiss trennscharf und transparent: Aber eine Kirchenatmosphäre mit ein bisschen Nachhall wäre stimmiger und charaktervoller gewesen.
Rainer W. Janka [28.02.2022]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Georg Philipp Telemann | ||
1 | Jesu, meine Freude TWV 1:966 (Kantate zum XX. Sonntag nach Trinitatis) | 00:16:13 |
8 | Ich werfe mich zu deinen Füßen TWV 1:882 (Kantate zum 19. Sonntag nach Trinitatis) | 00:13:18 |
14 | Valet will ich dir geben TWV 1:1458 (Kantate zum 17. Sonntag nach Trinitatis) | 00:12:24 |
19 | Der Herr verstößet nicht ewiglich TWV 1:288 (Kantate zum 21. Sonntag nach Trinitatis) | 00:13:34 |
27 | Ach, sollte doch die ganze Welt TWV 1:32 (Kantate zum 18. Sonntag nach Trinitatis) | 00:10:55 |
CD/SACD 2 | ||
1 | Christus hat einmal für die Sünde gelitten TWV 1:140 (Kantate zum Sonntag Estomihi) | 00:15:50 |
10 | Muß nicht der Mensch in Streit sein TWV 1:1146 (Kantate zum Sonntag Invocavit) | 00:09:34 |
16 | Herr, wie lange wilt du mein so gar vergessen TWV 1:777 (Kantate zum Sonntag Reminiscere) | 00:12:48 |
22 | Gott schweige doch nicht also TWV 1:678 (Kantate zum Sonntag Judica) | 00:13:38 |
27 | Wer ist der, so von Edom kömmt TWV 1:585 (Kantate zum Sonntag Palmarum) | 00:14:37 |
Interpreten der Einspielung
- Elisabeth Scholl (Sopran)
- Rebekka Stolz (Alt)
- Fabian Kelly (Tenor)
- Julian Dominque Clement (Bass)
- Julie Grutzka (Sopran)
- Larissa Botos (Alt)
- Hans Christoph Begemann (Bass)
- Gutenberg Soloists (Ensemble)
- Neumeyer Consort (Ensemble)
- Felix Koch (Leitung)