Russian Album
Andrea Vivanet
Aldilà Records ARCD 022
1 CD • 76min • 2021
26.11.2021
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Bereits vor zwei Jahren legte der junge italienische Pianist Andrea Vivanet bei Naxos eine aufsehenerregende Szymanowski-CD vor, damals de facto seine Premiere auf dem deutschen CD-Markt. Sein neues Album erscheint nun bei Aldilà Records und ist russischer Musik gewidmet. Im Zentrum stehen dabei drei Ersteinspielungen von Klavierwerken Nikolai Tscherepnins (1873–1945), die von Sergei Tanejews Präludium und Fuge gis-moll op. 29 sowie Dmitri Schostakowitschs Präludienzyklus op. 34 umrahmt werden.
Große Klarheit und exzellente Nachvollziehbarkeit polyphoner Strukturen
Gleich die Einspielung von Tanejews op. 29 zeigt exemplarisch auf, was Vivanets Klavierspiel auszeichnet. Tanejew gilt bekanntlich als der Kontrapunktiker schlechthin der russischen Musik seiner Zeit, was dieses Diptychon aus dem Jahre 1910 eindrucksvoll belegt: auf ein elegisch getöntes Präludium folgt eine dreistimmige Fuge von größter Kunstfertigkeit und sich stetig steigernder Expressivität, die schließlich den Höhepunkt des Präludiums wieder aufgreift und auf eine frenetische Schlusssteigerung hinauszulaufen scheint, ehe sie am Ende doch ganz trocken schließt. Vivanets Spiel zeichnet sich dabei durch große Klarheit und ausgesprochen gesangliche Linienführung aus, eine bis hin zu zahlreichen Details (wie etwa agogischen Nuancen, die die musikalische Binnenspannung nachvollziehen und verstärken) bemerkenswert durchdachte Darstellung. Versteht etwa Vladimir Ashkenazy (Decca) das Präludium eher als romantisches Prélude (mit entsprechender Delikatesse und einer Vielzahl an Farben und Schattierungen), erscheint es in Vivanets Lesart stärker als Präludium in der Tradition Bachs: Vivanets Anschlag ist im Mittel kräftiger (bleibt dabei aber variabel), vom Pedal macht er eher sparsamen Gebrauch. Insbesondere in der Fuge führt dies dazu, dass man in seiner Darbietung stets ganz vorzüglich die polyphonen Strukturen nachvollziehen kann, und in dieser Fähigkeit, Komplexität durchhörbar zu gestalten, scheint mir eine wesentliche Stärke von Vivanets Spiel zu liegen.
Im Spannungsfeld zwischen russischer Romantik und Moderne
Nikolai Tscherepnin – bekannt als Lehrer Prokofjews und Vater Alexander Tscherepnins – zählt zu den russischen Komponisten, die bis heute diskographisch eher unbefriedigend erschlossen sind, was bei ihm umso mehr ins Gewicht fällt, da sein Schaffen von einer erstaunlichen Wandlungsfähigkeit und einem bemerkenswerten Interesse für zahlreiche neuere musikalische Entwicklungen zeugt: zu Beginn noch im Fahrwasser der russischen Musik des 19. Jahrhunderts rund um Tschaikowski und die Gruppe der Fünf, rezipiert sein Œuvre Im- und Expressionismus, Neoklassizismus und Einflüsse jüngerer Kollegen wie Strawinski oder Prokofjew, ohne dabei seine Wurzeln in der russischen Schule zu verleugnen. Hiervon zeugen auch die drei Zyklen auf dieser CD: sicherlich sind die Sechs Préludes op. 17 und die Fünf Klavierstücke op. 18 (beide um die Jahrhundertwende entstanden) noch deutlich der russischen Musik des 19. Jahrhunderts verpflichtet, zeigen aber bereits ein bemerkenswertes Interesse an Klangfarben, das im abschließenden Stück aus op. 18 dazu führt, dass sich basierend auf Einflüssen Mussorgskis (man könnte sehr gut an das Große Tor von Kiew denken) bereits etwas später entstandene Stücke Ravels (La Vallée des cloches) oder Debussys (La Cathédrale engloutie) erahnen lassen. Ein Vierteljahrhundert später, bereits in Paris, entstanden die miniaturhaften Primitifs, die auf russischen Volksmelodien basieren, und in diesen knappen, manchmal karg-ein- bis zweistimmigen, manchmal motorisch-perkussiv geprägten Stilisierungen zeigt sich ein ganz neuer Ton, der zeitgenössische Klaviermusik bis hin zu Bartók zur Kenntnis nimmt. Andrea Vivanet erweist sich als vorzüglicher Anwalt dieser Raritäten.
Eine rundum empfehlenswerte Produktion
Den Tugenden, die Vivanets Interpretationen dieser Musik auszeichnen, begegnet man auch in seiner Einspielung von Schostakowitschs 24 Präludien op. 34 wieder, deren knappe, präzise Formulierungen Vivanet ausgesprochen gelungen, mit Sinn für die Charakteristik der jeweiligen Szene und großer Integrität trifft. Im Reigen der zahlreichen, aber nicht unüberschaubaren Vergleichseinspielungen kann sich Vivanet sehr gut behaupten; sucht man Bezüge, so steht seine Darbietung einer Elisso Wirsaladse näher als etwa Konstantin Scherbakov (dessen Interpretation und Tongebung verhaltener, zurückgenommener erscheint) und erst recht Olli Mustonen. Zusammen mit einem guten, Bezüge und Einordnungen herstellenden Begleittext von Martin Blaumeiser und einem vollen, eher direkten Klangbild ergibt sich so das Bild einer ungemein gelungenen, sehr empfehlenswerten Produktion. Man darf sehr hoffen, dass nun auch die anvisierte Einspielung von Nikolai Tscherepnins Klavierkonzert cis-moll in die Tat umgesetzt wird.
Holger Sambale [26.11.2021]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Sergej Tanejew | ||
1 | Prelude and Fugue gis-Moll op. 29 | 00:07:35 |
Nikolai Tscherepnin | ||
3 | Prélude op. 17 Nr. 1 Moderato pensieroso | 00:01:38 |
4 | Prélude op. 17 Nr. 2 Andante con moto. Capriccioso | 00:02:25 |
5 | Prélude op. 17 Nr. 3 Molto sostenuto (Quasi andante) | 00:02:02 |
6 | Prélude op. 17 Nr. 4 Moderato con moto | 00:01:51 |
7 | Prélude op. 17 Nr. 5 Andantino | 00:02:36 |
8 | Prélude op. 17 Nr. 6 Allegro non troppo. Agitato | 00:01:21 |
9 | Mélodie op. 18 Nr. 1 Moderato assai | 00:03:10 |
10 | Improvisation op. 18 Nr. 2 Andantino tranquillo | 00:03:04 |
11 | Prélude op. 18 Nr. 3 Molto adagio | 00:02:25 |
12 | Humorèsque op. 18 Nr. 4 Allegretto ma tranquillo | 00:01:50 |
13 | Modo religioso op. 18 Nr. 5 Andante sostenuto | 00:04:03 |
14 | Primitifs (12 Adaptions d'anciennes mélodies russes) | 00:12:32 |
Dimitri Schostakowitsch | ||
26 | 24 Präludien op. 34 | 00:29:21 |
Interpreten der Einspielung
- Andrea Vivanet (Klavier)