Estelle Revaz
Bach & Friends
Solo Musica SM 257
1 CD • 74min • 2016
20.04.2017
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Estelle Revaz strahlt mitreißenden jugendfrischen Schwung aus, wie sie in knallrotem Kleid und mit verzücktem Gesichtsausdruck ihr Cello hoch in die Luft wirft - man muss auch mal für eine auf den Punkt kommende Covergestaltung mit starkem Eye-Catcher-Aspekt ein Kompliment machen! Umso spannender ist dann die Frage, ob die optisch suggerierte Ausstrahlung auch aus der Musik hervorgeht. Ja – das ist der Fall! Mehr noch: Tiefer Ernst, ja sogar ein experimenteller Geist sind nicht ausgeschlossen. Wie Estelle Revaz, 1989 in der Schweiz geboren, spielt, das hat Biss und sprüht vor lustvollem Spielemperament und sinnlicher Klangfantasie gleichermaßen.
Und der experimentelle Aspekt? Sie konfrontiert Bachs „ewige“ Cellosuiten Nr. 1 und Nr. 3 mit Solostücken aus der Neuen Musik, die auch zum Teil schon wieder Klassiker sind. Aber sie platziert das Neue nicht in einer wohlfeilen „Sandwich-Dramaturgie“, die manchen zum Überspringen der „unbequemen“ modernen Musik verführen könnte. Vielmehr gerät alles in direkte Konfrontation zueinander. Also gibt es jeweils ein Stück Bach in unmittelbarem Wechsel mit oft sehr kurzen Kompositionen von Holliger, Zimmermann, Ligeti, Gubaidulina, Penderecki usw. Die erste Frage, die sich beim Hörer stellt: Warum wird zu tonal-gebundener Musik aus früheren Jahrhunderten eine größere Nähe empfunden als zur freigeistigen musikalischen Gegenwart? Die vorliegende CD beantwortet diese Frage zwar nicht, lädt aber umso mehr dazu ein, konventionsbedingte Hör-Grenzen durchlässiger zu machen.
Bindeglied ist der tiefempfundene, zugleich tänzerisch-leichte, aber dabei ausgesprochen ehrlich anmutende Spielfluss von Estelle Revaz. Sie zerstückelt die Bach-Sätze nicht etwa durch zu exaltiertes Gegen-den-Strich-Bürsten und bevorzugt anstelle von irgendwelchem Pathos lieber ein luftig atmendes Klangideal, was durchaus am historisch aufgeklärten Spielideal nah dran ist. Bachs Suitensätze mutieren zum Sprungbrett für neue Abenteuer - bevor der „Bach-Faden“ kontinuierlich wieder aufgenommen wird. Bei mehrmaligem Hören erschließen sich dann auch immer mehr struktuelle Quer-Bezüge zwischen „alt“ und „neu“. Dinge entwickeln sich weiter: Etwa, wenn die sanfte Wellenbewegung der Bach-Allemande in der atmend rezitativischen Struktur eines Stückes von Xavier Dayers namens Cantus II zur Ruhe kommt. Manchmal verdichtet es sich: Bachs leichtfüßig voran eilende Courante aus der G-Dur Suite steigert sich in eine expressive Skizze aus den sogenannten Chants populaires von Pascal Dusapin hinein. Verblüffend direkte Parallelen tun sich auf: Etwa zwischen den stationär verweilenden Doppelgriffen in Bachs Sarabande und einem vergleichbaren Verfahren in Krzysztof Pendereckis ebenso betitelter Sarabande. Ohne Bach würde es ja auch keinen Penderecki, zumindest nicht dessen Musik geben. In seidigem Glanz erstrahlt die flotte Gigue, welches die erste Suite vollendet. Dieses sinnliche Schillern und Funken lebt in einer extrem komprimierten Klangstudie von Kaaja Saariaho fort. Aber es gibt auch wieder neue Ruhepole nach all dem Fließenden, etwa eine hochkomprimierte Klangstudie von Bernd Alois Zimmermann. Fazit: Für die Hinterfragung von Standpunkten, Perspektiven und Konventionen erweist sich Estelle Revaz mit dieser neuen CD als engagierte Mittlerin.
Stefan Pieper [20.04.2017]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Johann Sebastian Bach | ||
1 | Suite No. 1 G major BWV 1007 for Violoncello solo | 00:02:33 |
Heinz Holliger | ||
2 | COncErto? Certo! cOn soli pEr tutti (...perduti?...)! (Fantasiestück) | 00:02:59 |
Johann Sebastian Bach | ||
3 | Suite No. 1 G major BWV 1007 for Violoncello solo | 00:05:20 |
Xavier Dayer | ||
4 | Cantus II | 00:04:50 |
Johann Sebastian Bach | ||
5 | Suite No. 1 G major BWV 1007 for Violoncello solo | 00:02:50 |
Pascal Dusapin | ||
6 | Trois pièces sur de (faux) chants populaires | 00:02:45 |
Johann Sebastian Bach | ||
7 | Suite No. 1 G major BWV 1007 for Violoncello solo | 00:03:01 |
Krzysztof Penderecki | ||
8 | Suite per violoncello solo | 00:02:59 |
Johann Sebastian Bach | ||
9 | Suite No. 1 G major BWV 1007 for Violoncello solo | 00:03:27 |
Isang Yun | ||
10 | Sieben Etüden for Violoncello solo | 00:02:39 |
Johann Sebastian Bach | ||
11 | Suite No. 1 G major BWV 1007 for Violoncello solo | 00:01:41 |
Kaija Saariaho | ||
12 | Sept papillons for Violoncello solo | 00:00:58 |
Johann Sebastian Bach | ||
13 | Suite No. 3 C major BWV 1009 for Violoncello solo | 00:03:44 |
Bernd-Alois Zimmermann | ||
14 | Vier kurze Studien for Violoncello solo | 00:00:43 |
Johann Sebastian Bach | ||
15 | Suite No. 3 C major BWV 1009 for Violoncello solo | 00:04:02 |
Luciano Berio | ||
16 | Les mots sont allés | 00:02:59 |
Johann Sebastian Bach | ||
17 | Suite No. 3 C major BWV 1009 for Violoncello solo | 00:03:20 |
Sofia Gubaidulina | ||
18 | Ten Preludes for Violoncello solo | 00:01:15 |
Johann Sebastian Bach | ||
19 | Suite No. 3 C major BWV 1009 for Violoncello solo | 00:04:23 |
György Kurtág | ||
20 | Die Sprüche des Péter Bornemisza op. 7 | 00:02:52 |
Johann Sebastian Bach | ||
21 | Suite No. 3 C major BWV 1009 for Violoncello solo | 00:04:05 |
Witold Lutoslawski | ||
22 | Sacher Variationen | 00:03:11 |
Johann Sebastian Bach | ||
23 | Suite No. 3 C major BWV 1009 for Violoncello solo | 00:03:27 |
György Ligeti | ||
24 | Sonata für Violoncello solo | 00:04:16 |
Interpreten der Einspielung
- Estelle Revaz (Violoncello)