Zodiac
Martin Scherber: III. Symphonie
Aldilà Records ARCD 017
2 CD • 2h 35min • 2019
30.01.2024
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Während Archäologen manchmal Erstaunliches ausgraben mit Schaufeln und feinsten Pinseln, gehört in der europäischen Musikkultur Christoph Schlüren zu den am gründlichsten Schürfenden, nun mit einer Zodiac-Symphonie, deren Realisierung unterstützt wurde von dem Scherber-Enthusiasten Friedemann Grau. Der weithin unbekannte Name des Komponisten Martin Scherber (1907-1974) gibt nun zu denken und zu hören. Seine Dritte erinnert an einen der bedeutendsten Symphoniker: Anton Bruckner (6. Symphonie; bereits in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts hatte ein gewisser Dr. Ferdinand Scherber einiges über Anton Bruckner publiziert in: Signale f. d. musikal. Welt, und über Bruckners Neunte in: Neue Musikzeitung, 1902).
Von Bruckner zu Scherber: Klangmetaphysik
Zodiac, die dritte (und letzte vollendete) Symphonie Martin Scherbers, dessen Name in der opulenten neuen „Musik in Geschichte und Gegenwart“ im Sach- wie Personenteil fehlt, geht dezidiert von Bruckner aus, hat sich im Inneren allerdings den zwölf Tierkreiszeichen zugeordnet, selbstredend ohne klingende Astrologie sein zu wollen…
Und die Musik selbst? Die unter kundig proportioniertem Dirigat 66-minütige Symphonie entfaltet sich auf eigentlich unerhörte Weise, ausgehend von einem zunächst in Baritonlage erklingenden Erfindungskern (Urmotiv) h-eis-fis-g-fis-H, zunächst introvertiert abgerundet (Hugo Riemann hätte wohl trefflich von einem „in[nen]betonten“ Motiv gesprochen). Dieses eine Oktav fallende, die V. Stufe umspielende Urmotiv, unter flirrendem Ostinatorhythmus der hohen Streicher, gemahnt ans Initium der Sechsten Bruckners. Scherbers symphonisch-organischer Formbildung höre ich gebannt zu, zumal wenn sie so bewunderswert kohärent realisiert wird. Alles ist erlebbar tonal aufeinander bezogen, Beziehungskunst vom innenbetonten Hauptsubjekt bis in die Sätze- und Satzbildung hinein.
Darüber hinaus verdient Scherbers Poetik, seine an Goethes Metamorphosen-Einsichten anknüpfende Poetologie hohes Interesse: Musikable Töne werden weniger als verfügbares Material eingesetzt denn als „wesenhaft“ zu hören, gleichsam entbunden. Ein symphonisches Kunstwerk, meinte er, könne man eigentlich „nicht planen. Es wächst“!
Haltung
Einem „Warten auf Einfälle“ misstraute Scherber ebenso. Bruckner ist ihm Vorbild eines tonal Konzentrischen, Zentripetalen. Dass Scherber dem Exzentrischen, Zentrifugalen Gustav Mahlers ebensowenig folgen wollte wie einem Hindemith oder einem Strawinsky, bei denen ihm „Gefühl (Gewissen)“ fehlte, war eigensinnig klargestellt. Scherbers musikalischem Metamorphose-Denken liegt das Meditative, Kontemplative zugrunde: Je ruhiger die Seele, um so besser werde sie zur Reflexionsebene – wie ein beruhigter See, auf dessen Oberfläche sich, last but not least, die Sternenwelt mit ihren beweglichen und unbeweglichen Konstellationen spiegeln kann … Unter Lampson, der den Bezug zum Tierkreis ignoriert hatte, dauert das Werk 53, bei Schlüren 66 Minuten; Scherber selbst war klar, dass eine (vierhändige) performance des Klavierauszugs weniger als eine Stunde, die orchestrierte Pracht mehr als eine Stunde Zeit braucht.
Orchestrale Glücksgefühle
Diese Ästhetik ist dem – in der Tat altehrwürdigen – Formprinzip erlebbarer „Einheit aus (oder: in) Mannigfaltigkeit“ verpflichtet. Das Orquestra Simfònica Camera Musicae realisiert faszinierende Farben und „Einklang“, gewährt in Schlürens – 20 Jahre nach Elmar Lampsons Studioversion (CD: col legno) entstandener – Studioaufnahme ebenso wie beim mitgegebenem Konzertmitschnitt Glücksgefühle vom Samtigen, Lauernden, Unheimlichen, bedrohlich sich Steigernden, mächtig Erhebenden bis hin zum Filigranen, Lieblichen, unaufdringlich Eindringlichen. Furtwänglerisch groß sich anbahnende Steigerungen nehmen sich Zeit, Zuhörende mit genügend Zeit können sich emotional öffnen, hingeben, während auch der SINN von Musik und Kunst überhaupt ins Bewusstsein kommen mag.
Analog zum Sozialen möchte Scherber „jeder Note den ihr zukommenden Wert“ geben, und wenn es um Anverwandlung von Metamorphose im Sinne Goethes zu tun ist, dann haben wir vor uns das grundlegende Prinzip unserer menschlichen Natur überhaupt. Kunstbetätigung, Musik soll, meinte der Komponist, „Wegweisung zum Ewigen sein“.
Wandlungen
Nach dem Zweiten Weltkrieg, etwa im Darmstadt der späten 1950er, hätte die Aufführung dieser Dritten Symphonie vermutlich Hohn und Spott geerntet. Mit Blick auf die Lebenswelt der bald acht Nachkriegsjahrzehnte allerdings wurde deutlich, dass es ideales, „richtiges Leben“ im Falschen kaum mehr geben kann – und in der Verfilzung der Interessen, im Verblendungszusammenhang (so ein Kernbegriff der Kritischen Theorie) irrwitzige Herausforderungen bestehen. Konnten Maximen wie diejenigen Scherbers: „das Böse ignoriert die Einheit“ vor Jahrzehnten noch belächelt werden, haben sich in dem halben Jahrhundert seit Scherbers Tod doch Vorzeichen zu seinen Gunsten, in seinem Sinne verändert. Manche Moden der Avantgarde sind vorbei, nicht mehr maßgeblich. Scherber „versucht, von Bruckner weiterzugehen“; seine Gedanken zur Kunst sind bedenkenswert wie die nun vorliegende, beeindruckende Qualität der künstlerischen Realisierung beachtenswert. Zur Frage des sogenannt Epigonalen in romantischer, spätromantischer Symphonik wäre der Musikhistoriker Matthias Wiegandt zu befragen (Wiegandts lesenwertes Buch: Berliner Musik Studien Bd. 13).
Rezeption gestern und heute
Interesse an Scherbers zwölfteiligem Zodiac hatte David Oistrach geäußert; Karl Winkler, ehemals Klavierlehrer Scherbers, später Professor in Wien, schrieb in den 1970ern, Scherbers Symphonie spanne sich weit aus, „weit wie das Meer, nirgends konstruiert, immer interessant, nie intellektuell – und immer lebendig“. Ob die am organischen Zusammenhang orientierten, symphonischen Längen als himmlisch empfunden werden können, dies wird von Vorurteilslosigkeit, musikalischer Erfahrung und von der Reife der Zuhörenden mitbedingt sein. Ohnehin gehen Botschaft und Erkenntnisse Martin Scherbers über passives, nur kulinarisches Genießen hinaus; in Gesprächen äußerte er sein hohes Lebensinteresse an einem „imaginativen Erleben“; förderlich sei: „zuerst alles in der Außenwelt aufsuchen, sich selbst zurückstellen. Anschließend zur Eigentätigkeit vordringen. Bemerken, dass alles von der Eigeninitiative abhängt.“
Dr. Matthias Thiemel [30.01.2024]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Arvo Pärt | ||
1 | Festina Lente (Studio Recording) | 00:08:40 |
Alessandro Marcello | ||
2 | Adagio d-Moll (Studio Recording) | 00:04:10 |
Martin Scherber | ||
3 | Sinfonie Nr. 3 h-Moll (Studio Recording) | 01:06:27 |
CD/SACD 2 | ||
Arvo Pärt | ||
1 | Festina Lente (Live in Concert) | 00:08:22 |
Martin Scherber | ||
2 | Sinfonie Nr. 3 h-Moll (Studio Recording) | 01:06:21 |
Interpreten der Einspielung
- Pau Roca Carreras (Oboe)
- Orquestra Simfònica Camera Musicae (Orchester)
- Christoph Schlüren (Dirigent)