Sigfrid Karg-Elert Konzertbearbeitungen für Kunstharmonium
Ambiente ACD 3030
1 CD • 74min • 2013
23.10.2014
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Es ist eine künstlerische Großtat, die Jan Hennig mit seinem mittlerweile zweiten Album mit Musik für Kunstharmonium gelang und immer noch gelingt: ein lange bloß als funktional zweckmäßig wahrgenommenes und dann faktisch durch elektronische Nachfolger wie den Synthesizer ersetztes Instrument nachhaltig wiederzubeleben. Das hinreißende erste Rezital des gebürtigen Schwarzwälders Hennig mit dem Titel „Das Kunstharmonium“ (ACD 3013), das von KLASSIK HEUTE mit besten Bewertungen ausgezeichnet wurde, widmete sich Originalwerken, die aktuelle Kompilation versammelt wertvolle Bearbeitungen des hochinteressanten und immer noch stark vernachlässigten Komponisten Sigfrid Karg-Elert (1877–1933), Schüler unter anderem von Reinecke und Jadassohn.
Die Tatsache, dass diese für den Konzertgebrauch bestimmten Bearbeitungen teilweise sehr bekannte Vorbilder haben, verdeutlicht gegenüber den Originalkompositionen noch, wie stark das Kunstharmonium sowohl die menschliche Stimme als auch den romantischen Orchesterklang imitieren kann. Hatte Jan Hennig auf seiner ersten CD noch ein Instrument der Pariser Firma Mustel von 1902/03 gespielt, setzt er nun ein neueres und noch raffinierteres Instrument von 1928 ein. Man müsste einmal mit einem unvorbereiteten Hörer den Versuch machen, ihm allein den verhallenden Schlußakkord des Tristan-Vorspiels Wagners vorzuspielen: Der Klang des Kunstharmoniums ist hier so farbenreich, dass er vom Mischklang eines gut zusammenstimmenden Orchesters tatsächlich kaum zu unterscheiden ist. Das ist der Clou dieser CD: dass Hennig demonstrieren kann, wie attraktiv das Harmonium seinerzeit nicht nur aus funktionalen Gründen, etwa als Orgelersatz, sondern eben auch aus rein ästhetischen Gründen war – und heute noch ist.
In allen Bearbeitungen frappieren besonders jene Effekte, die in dieser Form tatsächlich nur auf diesem Instrument möglich sind. Karg-Elerts Adaptionen von Cembalowerken Rameaus etwa positionieren sich historisch in einer ganz eigenen, merkwürdigen und äußerst reizvollen Zwischenzeit: Sie klingen wahrlich nicht nach der Musik des 17. Jahrhunderts, eher undefiniert modern, gleichzeitig aber natürlich nicht modernistisch; das Eingangsstück atmet eine würdevolle Ruhe, für die es in genau dieser Gestimmtheit eigentlich kein Vorbild gibt. Das Harmonium ist hierbei in der Lage, vielfältige Registerfarben gleichzeitig zu bringen, etwa die langgezogenen, atmenden Linien und kurz angetippten Tönen in Les tendres plaintes (Zärtliche Klagen). Die dunkle, satte Klanglichkeit des wunderbaren Instruments in seinen tiefen Registern, der leicht sentimentale, halbseidene Zungenschlag, der heute so modern wirkt, wird hingegen im einleitenden Vorspiel zum 3. Akt der Oper Kunihild von Cyrill Kistler (1848 – 1907) ausgelotet, einem begabten Schüler Rheinbergers und Lachners, Freund und eher erfolgsarmen Nachfolger Richard Wagners und nicht zuletzt einem Konkurrenten Richard Strauss´, der ihm aber nicht wirklich gefährlich werden konnte. Auch, wenn Kistler nicht besonders originell komponiert, ist dennoch, besonders in dieser Bearbeitung, das Vorspiel durchaus hörenswert.
Abgesehen vom Akkordeon ist das Harmonium das einzige nicht-elektronische Tasteninstrument, das gehaltene Töne nach Belieben an- und abschwellen lassen kann. Eben diese Qualität erlaubt es, Melodielinien mit einem schier unendlichen Atem aufzuspannen wie etwa in Schuberts Ave Maria oder in den beiden großen, in ihrer avantgardistischen Kühnheit frappierenden Bearbeitungen von Liedern Franz Liszts: Im Fischerknaben ergeben sich faszinierende Vorder- und Hintergrundwirkungen einer ausdrucksvollen Melodie über gründelndem Waldweben. Die Lorelei hingegen macht, mit der abschließenden Bearbeitungen des Tristan-Vorspiels zusammengehalten, deutlich, woher Wagner die Formidee des berühmten schmachtenden Beginns hernahm: Das Harmonium wirkt hier geradezu als missing link zwischen dem Liszt´schen Klavierlied und dem Wagner´schen Opernvorspiel. Wunderbar ist nicht zuletzt der fulminante Höhepunkt der Lorelei gegen Schluß mit dem röchelnden letzten Atem des Harmoniums, der im direkten Vergleich weitaus kühner wirkt als Wagners theatralische Verklärung. Dieses wiederum begeisternd gelungene Album entdeckt also nicht nur ein Instrument völlig neu, sondern macht auch lange verschüttete Bezüge sichtbar. Damit ist eine Empfehlung fällig.
Prof. Michael B. Weiß [23.10.2014]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Cyrill Kistler | ||
1 | Kunhild | 00:06:12 |
Franz Liszt | ||
2 | Der Fischerknabe | 00:05:14 |
3 | Die Loreley S 273 | 00:09:39 |
Sigfrid Karg-Elert | ||
4 | Suite d'après Jean Philippe Rameau | 00:15:07 |
Franz Schubert | ||
9 | Ave Maria | 00:07:27 |
Sigfrid Karg-Elert | ||
10 | Näher, mein Gott, zu dir (Improvisation über den englischen Choral) | 00:07:58 |
Charles-Marie Widor | ||
11 | Symphony No. 9 c minor op. 70 for Organ (Symphonie Gothique) | 00:09:04 |
Richard Wagner | ||
12 | Vorspiel | 00:13:04 |
Interpreten der Einspielung
- Jan Hennig (Harmonium)