Capriccio C 5135
1 CD • 61min • 2009
20.06.2013
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Ausgehend von den kammermusikalischen Bearbeitungen groß besetzter Orchesterwerke der Wegbereiter und ersten Protagonisten der „Moderne" in Arnold Schönbergs Wiener „Verein für musikalische Privataufführungen" wird hier ein typisches Kultprogramm der Achse Mahler-Berg in handlicher Besetzung vorgestellt. In den Liederzyklen erzeugt das durchaus erhellende und attraktive Resultate, wogegen in der Bearbeitung von Alban Bergs großem späten Meisterwerk, dem Violinkonzert, die problematischen Aspekte stärker zum Tragen kommen.
Vorausgeschickt sei, dass eine solche Dramaturgie von hochinteressanten und auch handwerklich bemerkenswert respektablen Bearbeitungen vor allem für Kenner von Interesse ist und natürlich für alle, die von Alban Berg nicht genug bekommen können bzw. die Gustav Mahler mal im neuen ungewöhnlichen Licht einer asketischeren Klanggestalt erfahren wollen. Wer die Werke noch nicht so gut kennt, sollte sie zuerst im Original besser kennenlernen – auch, um würdigen zu können, was ein gekonntes Arrangement zu bewirken vermag.
Da es sich bei Mahler und Berg um zwei der meisterlichsten, raffiniertesten und wirkungsmächtigsten Orchestratoren handelt, liegt auf der Hand, dass viel verloren gehen muss, wenn nicht einfach nur Retuschen vorgenommen werden, sondern – wie hier – ein großes Orchester auf einen solistisch agierenden Apparat reduziert wird. Das wissen natürlich auch die Bearbeiter, und indem sie es trotzdem tun, haben sie wohl nicht nur die Absicht, erschwinglichere Aufführungsbedingungen zu gewährleisten. Es wäre auch ein großer Irrtum anzunehmen, dass die Kammerensemble-Besetzungen intimere Wirkungen zur Folge hätten – im Gegenteil, denn die stellen sich durch das Ausmaß des möglichen Kontrasts im großen Orchester weit suggestiver ein. Nein, es geht vor allem darum, das „Knochengerüst", die Faktur des Tonsatzes in größerer Trennschärfe bloßzulegen, und das gelingt unter solcherart entschlackten Bedingungen selbstverständlich viel müheloser.
So ist in allen drei Werken das Streichquintett solistisch besetzt und verliert dadurch die klangprägende Macht, die Alpha-Stellung unter den Orchestergruppen. Überdies sorgen Klavier, Harmonium und Schlagzeug durchgehend für eine Art imaginären Orchesterklangs. In der auf Schönbergs Arrangement basierenden Bearbeitung des Musikologen Rainer Riehn (Jg. 1941) von Mahlers Kindertotenliedern treten Flöte, Oboe, 2 Klarinetten, Horn und Fagott hinzu, in Bergs Violinkonzert verlangt Andreas N. Tarkmann (Jg. 1956) Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott und Trompete, und in Bergs fünf Orchester-Liedern op. 4 nach Ansichtskarten-Texten von Peter Altenberg in der Instrumentation des dänischen Musikforschers Diderik Wagenaar (geb. 1946) ist es das klassische Bläserquintett.
Das Linos Ensemble, längst ein Traditionsjuwel des Capriccio-Katalogs, war bei den viertägigen Aufnahme-Sessions im Kammermusiksaal des Deutschlandfunks in Köln in ausgezeichneter Form, und die beiden Solisten können sich wahrlich hören lassen.
Die Mezzosopranistin Marion Eckstein erweist sich als einfühlsame, kultivierte und expressive Herrin der freitonalen Linearität in Alban Bergs harmonisch komplexem Tönekosmos, und vollbringt sehr achtbar die niemals einfache Aufgabe, die Innigkeit und sehnsüchtige Trauer Mahlers auf dem schmalen Grat zwischen Sentimentalität und Sprödigkeit zum Ausdruck zu bringen. Dabei kommt ihr gerade bei den Altenberg-Liedern entgegen, dass sie nicht gegen ein mächtig sich aufbäumendes Orchester anschreien muss. So etwas ist natürlich Fluch und Segen zugleich, denn einerseits ist alles gediegener und in manchen Momenten zu erfreulicher Subtilität neigend, wo dies sonst unterginge, andererseits ist die dramatische Dimension offenkundig abgeflacht zugunsten einer analytischer anmutenden Variante. All dies liegt in der Natur der Sache, und auf jeden Fall muss sich der Hörer nicht ärgern über geschmackliche Grenzwerte des Vibratos, wird die Sängerin doch nicht zum Äußersten getrieben. Herrlich übrigens, wie klar sie mit dem hohen a alleine einsetzt bei „Siehe, Fraue, auch du brauchst Gewitterregen" – und doch vermisse ich gerade hier dann eine innige Intensität des Ausdrucks, wie die Linie sie eigentlich verlangt. Es ist schon faszinierend, Mahler zur Abwechslung mal so gelungen „abgespeckt" zu hören (man hört dann einfach in Ermangelung sinnlicher Eindrücke automatisch mehr auf die imitatorischen Kunststücke), und dieses Werk funktioniert viel besser als das Lied von der Erde, wo sich durch die Abstinenz von orchestraler Aura ein erhebliches Moment schmalspuriger Monotonie durchsetzt…
Das Problem, dass die dynamischen und klanglichen Kontraste so verringert sind, schlägt beim Violinkonzert weit gravierender zu Buche. Ja, man kann alles im Detail viel klarer verfolgen als in gewöhnlichen Aufführungen, aber insbesondere das wahre Ausmaß der Gegensätze geht schmerzlich verloren und es stellen sich einige dramaturgische Längen ein, die nur durch die unerhörte Interessantheit der Faktur einigermaßen zu kompensieren sind. Wenn dann der Bach-Choral Es ist genug Einzug hält, so ist die Wirkung denn auch viel berechneter und weniger ergreifend als in Bergs Original. Dafür erfreut uns Winfried Rademacher mit einem exquisit gespielten Solopart, und auch hier entfällt viel von dem Stress, es mit einem übermächtigen Orchester aufnehmen zu müssen. Nun denn, eine sehr instruktive Alternative zum Bekannten ist das allemal. Das Klangbild ist klar, konturenscharf und nicht zu trocken geraten, und dürfte somit den reduktionistischen Intentionen der Bearbeiter weitestgehend genügen.
Christoph Schlüren [20.06.2013]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Gustav Mahler | ||
1 | Nun will die Sonn' so hell aufgeh'n (aus: Kindertotenlieder) | 00:05:27 |
2 | Nun seh' ich wohl, warum so dunkle Flammen (aus: Kindertotenlieder) | 00:04:32 |
3 | Wenn dein Mütterlein tritt zur Tür herein (aus: Kindertotenlieder) | 00:04:31 |
4 | Oft denk' ich, sie sind nur ausgegangen | 00:02:52 |
5 | In diesem Wetter, in diesem Braus | 00:06:04 |
Alban Berg | ||
6 | Konzert für Violine und Orchester (Dem Andenken eines Engels) | 00:25:45 |
8 | Seele, wie bist du schöner op. 4 Nr. 1 | 00:03:05 |
9 | Sahst du nach dem Gewitterregen op. 4 Nr. 2 | 00:01:15 |
10 | Über die Grenzen des Alls op. 4 Nr. 3 | 00:01:36 |
11 | Nichts ist gekommen op. 4 Nr. 4 | 00:01:24 |
12 | Hier ist Friede op. 4 Nr. 5 | 00:04:15 |
Interpreten der Einspielung
- Marion Eckstein (Mezzosopran)
- Winfried Rademacher (Violine)
- Linos Ensemble (Ensemble)