Geza Anda
spielt Haydn, Schumann, Ravel, Liebermann, Chopin und Brahms
SWRmusic 94.211
2 CD • 2h 05min • 1950, 1951, 1955
10.11.2010
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
So willkommen Live- und Rundfunkstudio-Dokumente mit dem ungarischen Pianisten Géza Anda auch sein mögen – und das nicht nur den unerschütterlichen Verehrern des Virtuosen zu Liebe! –, so erlaube ich mir doch in diesem Fall den kritisch warnenden Zeigefinger zu heben. Dies aus zweierlei Gründen und Hörperspektiven. Zum einen hat Anda von einigen seiner „Zugstücke“ prächtige Studio-Aufnahmen für die Deutsche Grammophon eingespielt. Sie gehören vor allem im Umkreis des Schumann-Repertoires für mein Empfinden noch immer zum Besten, zählen bis zum heutigen Tag klanglich und motorisch zum Feinsten des gesamten Katalogs (soweit mir das mittlerweile schier unübersehbare Repertoire zur Verfügung steht). In erster Linie gilt dies für seine rhythmisch-stolzen, feinnervigen, im Lyrischen ungemein noblen Einspielungen der Davidsbündlertänze (op. 6) und der Symphonischen Etüden (op. 13). Hier nun, am 2.10.1951 im Stuttgarter Studio VI der Villa Berg dargeboten, wirken die Schumann-Etüden tendenziell flüchtig erfasst und in vielen Details des pianistischen Tastens und Stürmens nicht mit letzter Konsequenz ausgearbeitet. Géza Anda wird wohl seinerzeit nicht im Ernst damit gerechnet haben, dass diese für den Radiohörer der 50er Jahre gefertigten Momentaufnahmen je auf einem Tonträger verööffentlicht werden würden. Damit müssen heute selbst die längst Dahingegangenen leben…
Überraschend für mich in dieser ausführlichen Werkfolge auf zwei CDs die einleitende Haydn-Sonate in F-Dur. Als Haydn-Interpret ist mir Anda nie begegnet – und auch nur ein einziges Mal als Gestalter einer Mozart-Sonate (KV 576)! Mit der munteren, im langsamen Satz fast schon Bellini ähnlichen ariosen Haydn-Kostbarkeit verfährt der Pianist mit einer Lässigkeit, ja Überheblichkeit, die an alte, vor allem von Alfred Brendel und András Schiff immer wieder kritisierte „Einspielhaltungen“, mit der unaufmerksame Kollegen der expressiven Vielfalt der Vorlage vieles, ja alles an Vielzüngigkeit, an Charme, Witz und Kantabilität schuldig geblieben sind und auch heute noch schuldig bleiben (Hamelin!!). Bei dieser Gelegenheit darf man mit Freude an die eigenwillig romantisierend angelegte Carnegie Hall-Darbietung von Horowitz erinnern, der das Werk damals mit „Sang“ und Zauberklang in Nähe seiner Clementi- und Scarlatti-Verführungen plazierte.
Routiniert, mit sicherem Blick für das Wesentliche entfaltet Anda die bald sperrigen, bald herb-empfindsamen Segmente der Ravelschen Valses nobles et sentimentales. Von der kompositorischen Substanz her bedeutet – im Anschluss präsentiert – die im Jahr der Studioaufnahme publizierte Sonate von Rolf Liebermann einen eklatanten Abstieg. Zur Zeit wird Liebermann ja vor allem in der mit bedeutenden Komponisten nicht gerade verwöhnten Schweiz anlässlich seines imaginären 100. Geburtstags gefeiert. Und zu Recht, was seine Verdienste als Kulturmanager, Opernintendant und uneigennütziger Förderer schöpferischer Kollegen anbelangt. Die von Anda liebenswerter Weise einstudierte viersätzige Sonate von knapp neun Minuten Spieldauer ist von karger Invention, sozusagen akustisches Graubrot mit frühem Verfallsdatum.
Die am 21. Mai 1955 in Ludwigsburg mitgeschnittenen Interpretationen sind meiner Meinung nach von durchwegs höherer Qualität als die früheren Studio-Aufnahmen. Schumanns Carnaval – leider nie im DG-Repertoire berücksichtigt! – überzeugt durch männliche Kraft und Übersicht in der allzu oft überhitzt gespielten „Préambule“, besticht durch gleichsam strukturierende Intelligenz, was die Zusammengehörigkeit bestimmter Einzelstücke bzw. Einzelszenen anbelangt. Und auch die Chopin-Etüden op. 12 zeigen Anda auf der Höhe technischer Vernunft und Brillanz. Er hat diese zwölf Etüden immer wieder als Zyklus und zum Beweis von Meisterschaft und Kondition zum Besten gegeben – zuweilen auch in Verbindung mit den Etüden op. 10 (und wie in Salzburg zu erleben mit den 24 Préludes op. 28 als Erweiterung zu einem Mosaik von 48 faszinierenden Miniaturen!).
Vergleichsaufnahmen: Schumann – Sinfonische Etüden: Anda (DG, Salzburg 27.7.1965 – Orfeo C 824 102 B ), Weissenberg (EMI); Chopin – Etüden op. 25: Sokolov (Opus 111 OPS 2009), Pollini (DG ); Haydn: Horowitz (Sony), Buchbinder (Telefunken / Teldec), Hamelin (Hyperion Hyperion CDA 67554), A. Schiff (Teldec).
Peter Cossé † [10.11.2010]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Joseph Haydn | ||
1 | Klaviersonate Nr. 38 F-Dur Hob. XVI:23 | 00:08:36 |
Robert Schumann | ||
4 | Sinfonische Etüden op. 13 | 00:21:03 |
Maurice Ravel | ||
19 | Valses nobles et sentimentales | 00:15:33 |
27 | Klaviersonate (1951) | 00:08:46 |
CD/SACD 2 | ||
Frédéric Chopin | ||
1 | Ballade Nr. 1 g-Moll op. 23 – Largo - Moderato | 00:09:15 |
Robert Schumann | ||
2 | Carnaval op. 9 (Scènes mignonnes sur quatre notes) | 00:25:55 |
Frédéric Chopin | ||
23 | Etüden op. 25 | 00:30:16 |
Johannes Brahms | ||
35 | Intermezzo Es-Dur op. 117 Nr. 1 | 00:04:45 |
Interpreten der Einspielung
- Géza Anda (Klavier)