ECM 472 687-2
1 CD • 66min • 2002
12.11.2004
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Wieso wird in den sehr seltenen Konzerten für Violine solo oder bei den zahllosen Zugaben am Ende eines Sonatenabends eigentlich fast immer nur Bach oder Paganini, aber praktisch niemals eine der sechs Sonaten von Ysaÿe gespielt? Mit dieser Referenzaufnahme des österreichischen Geigers Thomas Zehetmair könnte sich dies ändern. Zehetmair präsentiert Ysaÿes Sonaten nicht nur ausgesprochen zupackend und spannend, sondern schlüsselt zugleich deren auskomponierte Raffinesse im Spiel mit den historischen Vorbildern Bach und Paganini auf.
Scheint in den ersten beiden sowie in der vierten Sonate der Geist von Bach noch offen durch, so liegen die historischen Wurzeln in den anderen drei Sonaten verschlüsselter und tiefer. Paganinis Virtuosität ist überhaupt nur darin wahrnehmbar, als Ysaÿes 1923/24 geschriebene Sonaten sich immer wieder als technischer Drahtseilakt präsentieren ohne daß dieser dem reinen Selbstzweck diente. Diese Mischung aus historischem Gespür, technischer Bravour und Transparenz hinsichtlich der Präsentation der Werksubstanz ergibt nun den erstklassigen Cocktail, den ECM zudem in ein klanglich wunderbares Gefäß gegossen hat.
Zehetmair führt sein Instrument wie ein erstklassiger Reiter sein Pferd. Mal lässt er es pfeilschnell über wildes Notengestrüpp losschnellen, dann dressiert er es, bis sich auch die kleinste Bewegung eines pianissimo-Pizzicatos seinem Willen unterordnet. Der Bogen dieser erstklassigen Aufnahme spannt sich dabei von wilder Leidenschaftlichkeit (1. Sonate, vierter Satz) und glühender Intensität (3. Sonate) über strahlende Klangfarbenspiele (5. Sonate, 1. Satz) bis zu Momenten geheimnisvoller Stille (2. Sonate, 2. Satz). Als Anspieltip sei das Finale der zweiten Sonate (Track 8) genannt. Das Feuer, das Ysaÿe hier entfacht und das Zehetmair zugleich schürt und kontrolliert, scheint die Violine zu verzehren.
Besonders hervorzuheben ist Zehetmairs Kunst der Tongebung. Denn so sehr er sich auch von der Geschwindigkeit der Töne mitreißen lässt, so souverän gebietet er über seine Spieltechniken. Ob ein breit gestrichener Doppelstrich, ein säuselndes sul ponticello oder ein trockenes Pizzicato, jedes dieser Ausdrucksmittel wird präzise eingesetzt.
Im Hörraum ist Zehetmairs Violine mit einer Präsenz vorhanden, wie im Konzert vielleicht in der ersten Reihe direkt vor dem Interpreten. Selbst feinste Nuancen klingen plastisch und äußerst detailreich. Dennoch wirkt das Klangbild nicht klinisch, sondern schön in den Raum des Aufnahmeortes - die österreichische Propstei St. Gerold - integriert. Ebenfalls lobenswert ist der sehr gut geschriebene Booklettext von Paul Griffiths, der Werkbeschreibungen und Biographie logisch ineinander verzahnt.
Robert Spoula [12.11.2004]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Eugène Ysaÿe | ||
1 | Sonate g-Moll op. 27 Nr. 1 für Violine solo | |
2 | Sonate a-Moll op. 27 Nr. 2 für Violine solo (über das Präludium aus der Partita E-Dur von Johann Sebastian Bach. À Jacques Thibaud) | |
3 | Sonate d-Moll op. 27 Nr. 3 für Violine solo (Ballade) | |
4 | Sonate e-Moll op. 27 Nr. 4 für Violine solo | |
5 | Sonate G-Dur op. 27 Nr. 5 für Violine solo (à Mathieu Crickboom) | |
6 | Sonate E-Dur op. 27 Nr. 6 für Violine solo |
Interpreten der Einspielung
- Thomas Zehetmair (Violine)