harmonia mundi HMC 801818.20
3 CD/SACD stereo/surround • 2h 52min • 2003
17.05.2004
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Diese Aufnahme wird vermutlich für Erregung sorgen: himmelhoher Enthusiasmus da, totale Ablehnung dort. Mit ruhigem Pulsschlag betrachtet, ergibt sich ein Gemisch von widersprüchlichen Eindrücken. Viel Gelungenes, viel Interessantes, aber auch eine ganze Reihe von Fragwürdigkeiten. René Jacobs hat seiner Einspielung der Mozart-Oper eine ausführliche Verteidigungsrede beigegeben, in der er der „postromantischen“ Interpretation (Karajan) den „neoklassischen“ Ansatz (Jacobs) entgegensetzt. Gemeint ist damit in erster Linie der Orchesterklang, der sich im Gegensatz zum dezenten, fast unmerklich „softigen“ Toneinsatz der „Postomantiker“ in unverblümt naturalistischer Härte und Rohheit präsentiert. Das klein besetzte Orchester wird dadurch zum auffallendsten Element der Produktion, denn die Töne – namentlich jene der Streichinstrumente – stechen, klirren, sie bohren sich erbarmungslos ins Ohr. Das wird vielen empfindlichen Hörern weh tun, andererseits strahlt dieser rauhe und rückslichtslose Gestus jene jugendliche Unbekümmertheit aus, die dem Stück ganz gut zu Gesicht steht. Daß sich das Unfrisierte, Struppige mit Mozart ohne weiteres vereinigen läßt, ist längstens seit Amadeus oder den Inszenierungen von Peter Sellars bekannt.
Jugendlich und frisch wie die ganze Wiedergabe klingen auch die Stimmen, wobei als Manko eine gewisse klangliche Uniformität nicht abzustreiten ist. Ob Susanna (Patrizia Ciofi), Gräfin (Véronique Gens), Cherubino (Angelika Kirchschlager), Marcellina (Marie MacLaughlin) – alle Stimmen sind zum Verwechseln ähnlich und auch bei den Männern (Simon Keenlyside als Graf, Lorenzo Ragazzo als Figaro, Antonio Abete als Bartolo und Antonio) ist es nicht viel anders. Dadurch heben sich die Charaktere der Figuren zuwenig von einander ab. Einwände bestehen überdies gegen den Figaro-Sänger Regazzo, der seine Partie allzu verhuscht, wie auf Zehenspitzen vorträgt. Gerade diese Rolle würde stärkere Kontur erfordern. Zwei Randpartien sind es, die sich kräftiger deklarieren als die Protagonisten: Der messerscharf charakterisierende Kobie von Rensburg als Basilio und Curzio; und Nuria Rial läßt in der Barbarina-Episode eine individuelle Stimme von reinstem dolce-Klang hören.
René Jacobs hat die Gesangspartien mit Auszierungen versehen, die weit über alles bisher Erlebte und Gehörte hinausreichen. Ob das alles im Sinne Mozarts ist, bleibt zu bezweifeln, denn nach den Berichten der Zeitzeugen war gerade Mozart kein Anhänger allzugroßer sängerischer Freiheiten. Wenn Jacobs die Canzone des Cherubino gleich von Anfang an mit allerlei Schnörkeln und Quasten behängt, dann ist dies zumindest anfechtbar, denn solche Veränderungen sollten erst bei der Reprise des Hauptthemas zulässig sein. Ein weiterer strittiger Punkt: die Begleitung der Rezitative, die Nicolau de Figueiredo auf dem Hammerklavier erklingen läßt. Das sind regelrechte Separat-Kompositionen, mit kolossalen Ausschmückungen versehen. Das betont langsame Tempo der Secco-Rezitative ist als sinnvoll zu begrüßen und ohne Frage der sonst üblichen Methode des verhetzten Herunterhaspelns vorzuziehen. Allerdings ergibt sich ein nicht ganz einleuchtender Kontrast zu den durchwegs rasch, auch überschnell vorgetragenen Arien und Ensembles. In allen Eigenheiten der Aufnahme ist viel Bemerkenswertes enthalten, nur gibt es etwas zuviel davon und manches wird allzu demonstrativ vorgeführt. Jedenfalls ist René Jacobs neuer Figaro an Vorzügen reicher als an problematischen Seiten. Selbstverständlich gibt es bei dieser Wiedergabe keine Kürzungen, somit sind auch die Arien der Marcellina und des Basilio in voller Länge enthalten. Die Produktion wurde für das Théâtre de Champs-Élisées Paris erarbeitet, die Aufnahme entstand im Kölner WDR-Studio.
Clemens Höslinger [17.05.2004]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Wolfgang Amadeus Mozart | ||
1 | Le nozze di Figaro KV 492 (Opera buffa in vier Akten) |
Interpreten der Einspielung
- Simon Keenlyside (Graf Almaviva - Bariton)
- Véronique Gens (Gräfin Almaviva - Sopran)
- Patrizia Ciofi (Susanna - Sopran)
- Lorenzo Regazzo (Figaro - Baß)
- Angelika Kirchschlager (Cherubino - Mezzosopran)
- Marie McLaughlin (Marcellina - Sopran)
- Kobie van Rensburg (Basilio - Tenor)
- Antonio Abete (Doktor Bartolo - Baß)
- Nuria Rial (Barbarina - Sopran)
- Collegium Vocale Gent (Chor)
- Concerto Köln (Orchester)
- René Jacobs (Dirigent)