In Between
Blaise Ubaldini
asymetric ASY 006
1 CD • 62min • 2025
26.10.2025
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Gesamteindruck:![]()
Wenn die Avantgarde in den Club geht und die Clubmusik ins Konzerthaus – irgendwo dazwischen findet sich Blaise Ubaldinis bisher radikalstes Statement. Der französische Komponist Blaise Ubaldini präsentiert mit "In Between" ein 62-minütiges Album, das konsequent alle etablierten Schubladen verweigert. Wer ihn nur aus seiner Zusammenarbeit mit dem Ensemble Intercontemporain oder seiner Ircam-Produktion "Bérénice" (2014) kennt, wird überrascht sein. Denn Ubaldini hat die institutionelle Avantgarde verlassen und operiert nun in einem interdisziplinären Feld, das zeitgenössische Komposition, elektronische Clubkultur und experimentellen Pop zusammendenkt.
Die Besetzung signalisiert bereits die Richtung: Das Sine Nomine Streichquartett (Patrick Genet, François Gottraux, Hans Egidi, Marc Jaermann) arbeitet hier mit Sängerin Zoéline Simone, Drummer Luc Müller, Saxophonist Valentin Conus sowie Ubaldini selbst an Vocals, Electronics und Piano. Produziert von Yoann Le Dantec, aufgenommen zwischen November 2024 und Februar 2025 in der Schweiz.
Farbiges Klangvokabular und multiple Stilbezüge
Das Klangvokabular und die Stilbezüge sind gleichermaßen immens, besteht doch sein Ansatz darin, dass alle Klangquellen den gleichen Status haben. Die Opening-Tracks kombinieren zitternde Bogentechniken der Streicher mit trägen Trap-Rhythmen. Hip-Hop-Patterns kollidieren mit Kammermusik-Strukturen, Retro-Gaming-Sounds durchdringen orchestrale Arrangements. Ubaldini arbeitet mit modularen Synthesizern, die er als vollwertige Partner zur akustischen Besetzung behandelt.
Das zentrale Stück L.A. Mystics klingt so, wie es heißt: Die kalifornische Metropole wird zum Setting für düstere Visionen im Stil von David Lynch und Blade Runner – inklusive Sample-Material aus Ridley Scotts Sci-Fi-Klassiker. Industrielle Klangschichten, absurd verfälschte Vocal-Fragmente und ein bisweilen aufscheinender Industrial-Gestus kreieren ein urbanes Nightmare-Szenario.
Die mehrteilige Suite Ineffable vide basiert auf Texten des französischen Dichters Henri Michaux. Auch hier wird Ubaldinis künstlerischer Ansatz konsequent umgesetzt: Opernhafter Gesang alterniert mit wilden Saxofon-Ausbrüchen, robotisch veränderte Spoken-Word-Passagen treffen auf mehrstimmige Streicher-Sätze, sodass die Musik in ihrer Gesamtwirkung zwischen akademischer Avantgarde und digitaler Bass-Musik oszilliert.
Die Abenteuerlust wuchert wild
Ubaldini verrät uns in seinen umfangreichen Liner Notes die geistigen Bezüge und Quellen für so viel wild wuchernde konzeptionelle Abenteuerlust. Die Rede ist etwa vom Sufi-Dichter Farid uddin 'Attâr über Henri Michaux bis zu David Lynch, und es treffen Spiritualität, literarischer Surrealismus und zeitgenössische Popkultur in diesem nie zur Ruhe kommenden Ideenpool aufeinander. Die Empfehlung an die Hörer wird gleich mitgeliefert: keine Analyse, sondern sinnliche Erfahrung.
Vor allem in der zweiten Albumhälfte wird die Musik selbst zur Diskursmasse. Tracks wie Little Time (televangelist version) integrieren O-Töne amerikanischer TV-Evangelisten, The Valley Of Nothingness entwickelt philosophische Betrachtungen über drohnende Streicherflächen, das Finale Mot de la fin zitiert Henri Michaux' Gedanken über Stil als künstlerisches Gefängnis.
Radikale Umsetzung
Was "In Between" von vergleichbaren Hybrid-Projekten abhebt, ist die Radikalität der Umsetzung. Das ist keine freundliche Begegnung zweier Genres, sondern der Versuch einer neuen musikalischen Grammatik jenseits gewohnter Territorien. Dabei zahlt sich aus, dass Ubaldini beide Welten – zeitgenössische Komposition und elektronische Musik – wirklich durchdrungen hat, statt sie nur anzuzitieren.
"In Between" braucht Geduld und Konzentration, bietet dafür aber Zugang zu einem musikalischen Raum, der bisher weitgehend unerforscht blieb. Es demonstriert, wie eine genreübergreifende Ästhetik klingen könnte, die wirklich sämtliche kulturellen Hierarchien verwirft – nicht als akademisches Gedankenspiel, sondern als hörbares Resultat.
Stefan Pieper [26.10.2025]
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Komponisten und Werke der Einspielung
| Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
|---|---|---|
| CD/SACD 1 | ||
| Blaise Ubaldini | ||
| 1 | Foreword | 00:01:53 |
| 2 | The Garden's Slope | 00:04:10 |
| 3 | The Heart Beating | 00:03:44 |
| 4 | L.A. Mystics | 00:06:02 |
| 5 | Ineffable vide. Incantation | 00:03:37 |
| 6 | Ineffable vide. Révélation | 00:02:57 |
| 7 | Ineffable vide. Révélation 2 | 00:04:29 |
| 8 | Ineffable vide. Révélation 3 | 00:04:59 |
| 9 | Gone with the Noise | 00:03:37 |
| 10 | Little Time (televangelist version) | 00:04:00 |
| 11 | Little Time Song | 00:03:55 |
| 12 | The Valley of Nothingness | 00:10:30 |
| 13 | Mot de la fin. (Le fin) | 00:07:40 |
| 14 | As Fluid as Water | 00:05:54 |
Interpreten der Einspielung
- Valentin Conus (Saxophon)
- Luc Müller (Drums)
- Zoéline Simone (Stimme)
- Sine Nomine Quartett (Streichquartett)
- Blaise Ubaldini (Violoncello, Glocken, Synthesizer, Klavier, Stimme)
