Bachian Elegies
Musical Meditations for Uncertain Times
Michael Tsalka

paladino music PMR0143
1 CD • 60min • 2024
16.09.2025
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Bachian Elegies – Musical Meditations for Uncertain Times ist das vorliegende neue Album des niederländisch-israelischen Pianisten und Cembalisten Martin Tsalka betitelt, und dies vor einem ganz konkreten Hintergrund: es handelt es sich um eines der (aus naheliegenden Gründen gar nicht einmal so wenigen) Alben, deren Entstehung und Konzeption eng mit der Coronazeit verknüpft ist. In diesem Falle fand Tsalka, der seinerzeit Anstellung an einer chinesischen Kunst- und Musikschule gefunden hatte, Trost und neue Motivation in der Musik Bachs, sich nicht zuletzt vergegenwärtigend, dass Bachs Leben selbst von Widrigkeiten aller Art durchzogen war, derer zum Trotz er sein gewaltig-zeitloses Œuvre schuf. Und so entstand ein Programm, das Bachs Lebensweg anhand ausgewählter Schlüsselwerke in chronologischer Reihenfolge nachvollziehen will.
Vom jungen Bach bis zur Chaconne
In der Tat besitzt dieses Konzept seinen Reiz, und insofern lohnt es sich, das hier vorgestellte Repertoire aus diesem Blickwinkel ein wenig detaillierter zu diskutieren. Am Beginn steht mit dem Choralvorspiel Erbarm dich mein, o Herre Gott BWV 721 ein ganz früher Bach, eigentlich für Orgel, hier auf einem Fortepiano vorgetragen, ebenso wie das Capriccio über die Abreise seines innig geliebten Bruders BWV 992. Warum sich Tsalka gerade bei diesen beiden Werken für ein Fortepiano entschieden hat, verrät das Beiheft nicht; die übrigen Werke Johann Sebastian Bachs jedenfalls spielt er auf einem Cembalo (sodass die CD übrigens auch in zwei verschiedenen Stimmungen gehalten ist). Bei dem Konzert G-Dur BWV 973 handelt es sich um eine Vivaldi-Adaption des jungen Bachs (um 1713/14), während das Programm mit der berühmten Chaconne aus der Partita für Violine solo Nr. 2 d-moll BWV 1004 ins Jahr 1720 übergeht. Tsalka spielt hierbei eine Cembaloadaption von Jacques Drillon, die mich nicht in jedem Detail überzeugt; den Arpeggien ab Takt 89 etwa geht das Volumen ab, das sie auf der Violine haben (da sie dort den vollen Umfang des Instruments ausnutzen).
Eine Brücke zu Carl Philipp Emanuel Bach
Mit Präludium und Fuge Nr. 24 h-moll aus Band II des Wohltemperierten Klaviers macht das Programm einen veritablen Sprung von etwa 20 Jahren. Vielleicht wirkt diese Lücke etwas unbefriedigend, zwangsläufig ist jedoch der Abschluss des Programms, der natürlich aus dem unvollendeten Contrapunctus XIV aus der Kunst der Fuge sowie dem Choralvorspiel Vor deinen Thron tret’ ich BWV 668a bestehen muss. Es war Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel, der die unvollendete Fuge mit der Bemerkung versah, ihr Verfasser sei über der Arbeit an ihr verstorben, und er war es auch, der das ebenfalls nicht vollständig überlieferte Choralvorspiel vollendete. Insofern ist es keinesfalls zufällig, dass Tsalka vor besagtem letzten Zweierblock des Programms ein Werk Carl Philipp Emanuels einstreut. Stilistisch ist die höchst expressive, kühne, dabei grundsätzlich ganz im Sinne des CD-Titels elegische Fantasie fis-moll Wq. 67 zwar weit von den Werken des Vaters entfernt, aber da es sich ebenfalls um ein ganz spätes Werk (aus dem Jahre 1787) handelt, ergibt sich auf andere Weise doch wieder ein anregender musikalischer Bogen.
Historisch informiert und expressiv geschärft
Tsalkas Repertoire reicht vom Barock bis zur zeitgenössischen Musik, doch abgesehen von einer Gesamtaufnahme von Viktor Ullmanns Klaviersonaten ist er diskographisch durchaus insbesondere als Spezialist für die Musik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts mit einem besonderen Schwerpunkt auf historischem Instrumentarium anzusehen. Die Beschäftigung mit historischer Aufführungspraxis, verbunden mit einem Verständnis dieser Bach’schen „Elegien“, das gerade das Expressive, die Ausdruckskraft der Musik betont, prägt das vorliegende Album wesentlich. Überzeugend gerät insbesondere Carl Philipp Emanuel Bachs Fantasie, während ich gleich mit dem Choralvorspiel BWV 721 zu Beginn nicht recht warm werde. Tsalka formuliert hier in gewisser Hinsicht einen Gegenpol zu Darbietungen wie Émile Naoumoffs Arrangement desselben Stücks: statt völliger Introspektion drängende Unruhe, eher harte Artikulation und relativ viel Rubato. Dass dies mitunter zu Lasten der melodischen Bögen der Musik geht, erlebt man auch zu Beginn des Capriccios, wo sich das Gefühl eines völlig natürlichen Flusses der Musik wie es hier etwa Wilhelm Kempff zu kreieren vermochte nicht recht einstellen will. Überzeugender dann wiederum das Vivaldi-Arrangement BWV 973 oder auch der Auszug aus dem Wohltemperierten Klavier. Lesenswert sind Tsalkas eigene Gedanken zu diesem Programm und seinen Hintergründen im Beiheft.
Holger Sambale [16.09.2025]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Johann Sebastian Bach | ||
1 | Erbarm dich mein, o Herre Gott BWV 721 | 00:04:03 |
2 | Capriccio über die Abreise des geliebten Bruders B-Dur BWV 992 | 00:10:09 |
8 | Concerto G-Dur BWV 973 (nach Antonio Vivaldi RV 299) | 00:06:42 |
11 | Partita Nr. 2 d-Moll BWV 1004 (Chaconne; bearb. für Cembalo) | 00:11:55 |
12 | Präludium und Fuge Nr. 24 h-Moll BWV 893 (aus: Das Wohltemperierte Klavier Buch II BWV 870-893) | 00:04:27 |
Carl Philipp Emanuel Bach | ||
14 | Fantasia fis-Moll Wq 67 H 300 | 00:10:48 |
Johann Sebastian Bach | ||
15 | Die Kunst der Fuge BWV 1080 (Contrapunctus XIV: Fuga a 3 Soggetti) | 00:07:51 |
16 | Vor deinen Thron tret ich hiermit BWV 668a (Orgelchoral) | 00:03:16 |
Interpreten der Einspielung
- Michael Tsalka (Fortepiano, Cembalo)