Georg Philipp Telemann
Kantaten – Französischer Jahrgang Vol. 4
Gutenberg Soloists • Neumeyer Consort • Felix Koch

cpo 555 439-2
2 CD • 2h 19min • 2023, 2022
05.02.2025
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Mit Vol. 4 feiern Felix Koch, die Gutenberg Soloists sowie das Neumeyer Consort „Bergfest“ bei ihrer Mammutunternehmung, den kompletten 1713/14 in Eisenach und ein Jahr später in Frankfurt uraufgeführten „Französischen Jahrgang“ der Herren Georg Philipp Telemann und Erdmann Neumeister auf Tonträgern festzuhalten. Hierbei ermöglicht Nun komm der Heiden Heiland TWV 1:1175 den direkten Vergleich mit der Komposition desselben Textes in Bachs BWV 61.
Bergfest
Nachdem Felix Koch und seine Ensembles etwa die Hälfte der 72 Kantaten bewältigt haben, mag eine Übersicht manchem willkommen sein, zumal manche Sonntage des Kirchenjahres ja demnächst anstehen:
- Vol. 1: Estomihi, Invocavit, Reminiscere, Judica, Palmarum; 17.-21. p. Trinitatis
- Vol. 2: Laetare, 1.-3. Ostertag; 22.-24. p. Trin.
- Vol. 3 Michaelis, 11.-13./25. und 26. p. Trin.
- Vol. 4 1.-4. Advent; 6.-10. p. Trin.
Der manchmal frech-frivole Lieblingslibrettist
Telemann pflegte zwischen 1713 und 1744 seine Kantaten jahrgangsweise auf Libretti eines einzelnen Dichters zu vertonen. Niemand wurde dabei von ihm so häufig – nämlich mit 5 Jahrgängen und 360 Einzelwerken – berücksichtigt, wie sein späterer Hamburger Kollege Erdmann Neumeister (1671-1757), dem er bereits aus seiner Zeit als Hofkapellmeister in Sorau freundschaftlich verbunden war, wo der um 10 Jahre ältere Dichter als Hofprediger und Superintendent wirkte. Dieses geistliche Amt hielt ihn davon ab, seine während des Theologiestudiums an der Universität Leipzig gehaltenen Poetik-Vorlesungen im Jahre 1707 unter eigenem Namen zu veröffentlichen. Deshalb musste seine auch heute noch überaus amüsante „Allerneueste Art zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen“ unter dem Pseudonym Christian Friedrich Hunolds, „Menantes“ in Hamburg veröffentlicht werden, was bei diesem Beispiel für überlange trochäische Langverse kaum verwundert:
„Grolmus hat den Schluß gemacht/ lustig und galant zu leben/
Weil die Jungfern selber Geld/ und die Weiber Kleider geben.“
Telemann vs. Bach
Vergleicht man die Vertonungen von Nun komm der Heiden Heiland, stellt man fest, dass Bachs Vertonung stark von organistischen Ideen geprägt ist. Er vertont den Eingangschoral als Choralfantasie in Form einer französischen Ouvertüre und den Schlusschoral als virtuoses Finale, bei dem er wahrscheinlich selbst als Geiger glänzte. Telemann macht es sich hier einfacher, indem er mit einem Ritornell in F-Dur, die simpel vierstimmig gesetzte dorische Choralmelodie einrahmt, was eventuell seinen Grund darin hat, dass der Choral in Eisenach und Frankfurt von der Gemeinde mitgesungen werden sollte, was in Weimar nicht der Fall war. Dasselbe gilt für den Schluss-Choral. Dafür spinnt Telemann das Dictum des „anklopfenden Christus“ zur Arie mit drastisch dargestelltem Klopfen über virtuosen Cello-Figuren aus, was wiederum auf seine Erfahrung als Opernkomponist verweist.
Diese Erfahrung kam Telemann auch bei der Gestaltung der Arien zugute, die von schlicht (CD1, Track 11) bis hochvirtuos (CD1 Track 5 oder 17 mit dem für 1713 höchst ungewöhnlichen c‘‘‘ im Sopran) reichen. Auch die gelehrt-fugierte Setzweise gehört zu seinem Rüstzeug, wenngleich er es bei Exposition und maximal zwei Durchführungen belässt (CD1 Track 21). Nie ist er jedoch um eingängige melodische – häufig tänzerische – Einfälle verlegen. Man höre nur die hinreißende Gavotte en Rondeau auf CD2 (Track 25).
Gelungene Interpretation
Felix Koch den Solisten und seinen Gutenberg Soloists mitsamt dem Neumeyer Consort gelingt mit Vol. 4 die bisher überzeugendste Folge des „Französischen Jahrgangs“. Die Solisten lassen durchweg endlich das für die Bindung von Koloraturen und eine sinnvolle Phrasierung erforderliche Vibrato zu. Das überzeugt in allen Partien! Beeindruckend zudem, wie Hans-Christoph Begemann die Rezitative im sinnerfüllten Legato farbreich gestaltet. Ob jedoch alle seine Martellati, die allerdings nicht aspiriert wirken, in den Arien sinnvoll sind?
Hervorragend sind auch die ausführlichen Booklet-Texte von Anja Weissmann und Birger Petersen.
Fazit: Eingängigeres, galantes Pendant zu den üblichen Bachkantaten. Eine Fundgrube für Vokalensembles, zumal die Partituren im Original von der Universitätsbibliothek Frankfurt/M. und sukzessive auf IMSLP durch Peter Young im Web greifbar sind. Definitiv allen Liebhabern von Barockmusik und solchen, die von Bachs Gravität in Kirchen immer abgeschreckt wurden, empfohlen.
Thomas Baack [05.02.2025]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Georg Philipp Telemann | ||
1 | Nun komm, der Heiden Heiland TWV 1:1175 (Kantate zum 1. Advent) | 00:12:49 |
7 | Sehet auf und hebet eure Häupter auf TWV 1:1260 (Kantate zum 2. Advent) | 00:13:16 |
13 | Wie schön leuchtet der Morgenstern (Chroalvorspiel) | 00:02:24 |
14 | Ach Gott, wie manches Herzeleid TWV 1:18 (Kantate zum 3. Advent) | 00:13:28 |
18 | Christen heißen und nicht sein TWV 1:135 (Kantate zum 4. Advent) | 00:10:17 |
26 | Herr Christ, der ein'ge Gottes Sohn TWV 1:732 (Kantate zu Mariä Verkündigung) | 00:12:37 |
CD/SACD 2 | ||
1 | Zorn und Wüten sind ein Greuel TWV 1:1734 (Kantate zum 6. Sonntag nach Trinitatis) | 00:14:32 |
6 | Nimm von uns, Herr, du treuer Gott TWV 1:1159 (Kantate zum 10. Sonntag nach Trinitatis) | 00:14:58 |
13 | Wer Jesum kennt, kann niemals traurig sein TWV 1:1588 (Kantate zum 7. Sonntag nach Trinitatis) | 00:16:18 |
20 | Machet euch Freunde TWV 1:1076 (Kantate zum 9. Sonntag nach Trinitatis) | 00:14:36 |
26 | Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort TWV 1:451 (Kantate zum 8. Sonntag nach Trinitatis) | 00:12:25 |
Interpreten der Einspielung
- Gutenberg Soloists (Ensemble)
- Neumeyer Consort (Ensemble)
- Felix Koch (Dirigent)