Quatuor Arod
Debussy • Ravel • Attahir
String Quartets
Erato 5054197752308
1 CD+DVD • 78min • 2023
02.03.2024
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Kaum je hat mich das Verfassen einer Rezension solche Skrupel gekostet wie bei diesem französischen Album des Quatuor Arod. Nicht aufgrund von etwas, was auszusetzen wäre, sondern in Anbetracht der phänomenalen Qualität. Vorweg: die Programmabfolge mit den französischen Klassikern von Debussy und Ravel als Rahmenwerken und dem 2017 entstandenen Streichquartett Al Asr (Tagesgebete) vom 1989 in Toulouse geborenen Benjamin Attahir (über den online erstaunlich wenig Substanzielles zu finden ist) im Zentrum ist dramaturgisch perfekt gewählt.
Vollendet luzide Darbietungen
Die Aufnahmetechnik macht nicht nur ALLES hörbar, was selbstverständlich auch an den luziden Aufführungen liegt, sie ist auch bezüglich des fiktiven Raumklangs von erstaunlicher Realitätsnähe und lässt uns das Ganze nicht nur sozusagen hautnah, sondern auch mit der nötigen Prise panoramischer Perspektive miterleben. Die Begleittexte beschreiben einerseits das Nötigste (der Komponist selbst über sein neues Werk), andererseits verkündet das Quartett hier sein artistisches Credo und Bruno Monsaingeon stimmt einen Lobgesang an, der – es zwar nicht so umfassend ausdrücken kann wie von ihm erhofft, jedoch der himmelstürmenden Angelegenheit moralisch gerecht wird. Denn es ist dies eines der großartigsten Quartett-Alben aller Zeiten von der auch nach grundlegender Überprüfung für mich zweifellos führenden Quartettformation unserer Tage. Als Zugabe zur CD gibt es den Portraitfilm von Monsaingeon, der nicht nur beweist, dass er hier die Nase des echten Feinschmeckers hatte, sondern vor allem wirklich eine Dokumentation der musikalischen Arbeit ist, die wesentliche Erkenntnisse vermittelt und darüber hinaus einfühlend die vier Protagonisten porträtiert. Und wer vorher Zweifel gehabt haben sollte (ohne jemanden bevorzugen zu wollen) – der Cellist ist ein besonderes Genie…
Mehr Beethoven wagen!
Ein Genie, ohne diesem abgegriffenen Begriff inflationär zuzusprechen, ist ganz besonders Benjamin Attahir, der französische Komponist mit jüdischem Vor- und arabischem Nachnamen. Sein demnächst sieben Jahre altes Quartett ist das größte mir bekannte zeitgenössische Meisterwerk für die Gattung. Rein technisch sind hier orientalische Elemente (tonal organisierte, präzise ausgehörte Mikrotonalität), Sonorismus (Klangfelder-Organisation in vielfältigsten Schattierungen) und Minimal Music (das rhythmisch verzwackte Spiel mit raffiniert ineinander verschlungenen Wiederholungen auf engstem Raum) mit von der Partie, doch entscheidend ist: Attahir hört und gestaltet dynamisch zusammenhängend, seine Amplitude der tonalen Organisation ist extrem weit gespannt, immer ist die Richtung musikalisch bewusst genommen, der Hörer erhält Orientierung im übergeordneten Drama, der Komponist agiert unbestechlich korrelierend mit Kompass im unbekannten Land. Es werden unterschiedlichste, scharf kontrastierende Aggregatzustände des Seelischen durchlaufen, und alles gipfelt in einer finalen, das Sperrige ihres Materials gigantisch überhöhenden Fuge, wie sie so revolutionär, so wahrhaft umstürzlerisch keiner geschrieben hat seit Beethovens Großer Fuge. Ein absoluter Grenzritt, stets mindestens mit einem Fuß auf der anderen Seite. Und wenn ich nun, ihm dafür dankend, sage: ‚mehr Beethoven wagen!‘, so meine ich nicht den historischen Beethoven, sondern den Geist einer aktuellen Revolution. Ganz große Musik, extrem herausfordernd, auch bezüglich der schieren Intensität auf Augenhöhe mit Größen wie Bartók und Schostakowitsch, und von einer authentischen Sprengkraft der Darbietung in Zusammenarbeit mit dem Komponisten, wie dies zuletzt vielleicht in den 1950ern bei Peter Mennin und dem Juilliard Quartet der Fall war.
Der Versuch, das Wunder zu beschreiben
Davor Debussy, danach Ravel: vor allem die beiden Mittelsätze des Debussy-Quartetts habe ich nie so gut gehört. Und bei Debussy gilt insgesamt, sozusagen als lebende Antithese zu Pierre Boulez’ pathologisch analytischem Sektionsprozedere, was dank Arthur Louriés Koussevitzky-Biographie an authentischer Aufführungspraxis verbürgt ist: konstantes Rubato in feinster Ausformung, aus den widersprechenden melodisch-harmonischen Energien des Tonsatzes gewonnen. Diese Musik lebt ganz aus dem Moment, geschieht konstant unerwartet, und doch mit untrüglichem Gespür für den Gesamtzusammenhang, der sich scheibra wie von Zauberhand einstellt Und in all dem herrscht absolute Synchronizität der Ausführung, ganz ohne Seil oder ohne Netz, ohne jede Sicherheit. Das hat etwas von einem Wunder, auch bei Ravel, wo es im langsamen Satz Momente von einer solch traumwandlerischen Intimität gibt, dass man kaum glauben kann, wie sich dies tatsächlich ereignen kann.
Ich könnte ein ganzes Buch füllen mit der Beschreibung der erlesenen Details, auch ein paar periphere Fragezeichen zur gestalterischen Absicht (etwa, hat Debussy mit «augmenter» eine Beschleunigung des Tempos gemeint?) einfügen, doch ist für eine solch eingehende Würdigung hier nicht der Platz, und so begnüge ich mich mit der sonst fast nie auszusprechenden Generalempfehlung, dass jeder, der etwas mit Streicher-Kammermusik und französischen Gipfelwerken anfangen kann, und auch jeder, der sich ernsthaft für musikalische Arbeit interessiert (wegen der DVD!), unbedingt zu diesem wunderbaren Album greifen sollte.
Christoph Schlüren [02.03.2024]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Claude Debussy | ||
1 | Streichquartett g-Moll op. 10 L 85 | 00:26:33 |
Benjamin Attahir | ||
5 | Al Asr | 00:22:56 |
Maurice Ravel | ||
10 | Streichquartett F-Dur op. 35 | 00:28:44 |
Interpreten der Einspielung
- Quatuor Arod (Streichquartett)