Franz Schubert
Complete Symphonies & Fragments
cpo 555 228-2
4 CD • 4h 37min • 2018, 2021
27.01.2022
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Michi Gaigg beweist in der Einspielung sämtlicher Sinfonien und frühen Orchesterfragmente von Franz Schubert mit ihrem famosen L’Orfeo Barockorchester, dass schwungvolles Musizieren und Intonationsreinheit sich auch mit dem Instrumentarium der Frühromantik realisieren lässt. Dabei legt sie den Schwerpunkt auf die durch die Bläser dominierten Farben.
Vom Haydn-Epigonen zum Leitstern der spätromantischen Sinfonie
Hätte Franz Schubert nur seine sechs frühen Sinfonien komponiert, würde er heutzutage wohl wie seine Zeitgenossen Ferdinand Ries, Carl Czerny und Franz Lachner unter die Kleinmeister gerechnet werden. Dabei hat er in diesen zwischen seinem 16. und 19. Lebensjahr entstandenen Werken den sinfonischen Bläsersatz weiterentwickelt und damit das Tor für die Hochromantik aufgestoßen. Von epochaler Bedeutung sind jedoch die „Unvollendete“, die als erste unheroische „Sinfonie mélancholique“ in Moll gelten darf, und die „Große C-Dur-Sinfonie“, die in Form und Ausdehnung zum Vorbild für Bruckner und Mahler wurde. Dass Schubert dieser Weg nicht leicht fiel, bezeugen die vielen Fragmente, die er im Kampf mit der Sonatenhauptsatzform hinterließ. Während bei Klavierfragmenten zumeist nur bereits vorhandenes Material für die Reprise ergänzt werden muss, fehlt es bei den orchestralen Geschwistern an mehr. Diese zwischen unter einer und bis zu sechs Minuten Spielzeit umfassenden Bruchstücke werden hier erstmalig auf CD vorgestellt. Bei der Sinfonie in E-Dur, von der ein vollständiger – jedoch nicht instrumentierter Entwurf – vorliegt und die ein Jahr vor der „Unvollendeten“ begonnen wurde, ist zu bedauern, dass Gaigg nicht auf die fertiggestellte Fassung von Brian Newbould zurückgegriffen hat, der auch ein nach der 8. entstandenes D-Dur-Fragment ergänzte.
Fast perfekte Interpretation
Michi Gaigg und das L’Orfeo Barockorchester interpretieren diese Werke schwungvoll, kontrastreich mit Delikatesse und Sensibilität. Die Tempi der schnellen Sätze sind durchaus rasant, aber immer kontrolliert, die langsamen Sätze schwingen im Metrum. Besonders die Holzbläser agieren in ihren vielen Soli superb, intonationssicher und farbenreich. Artikulationen sind wohldurchdacht. Alles fließt und ist von der Phrasierung auf das jeweilige Ziel ausgerichtet. Spannungen entfalten sich und entspannen sich wieder. Man höre dazu einmal ab 7:25 in Track 9 von CD2 hinein! Das hebt ihre Interpretationen von 5., „Unvollendeter“ und „Großer C-Dur-Sinfonie“ in die Referenzklasse. Leider sind besonders in den langsamen Sätzen der Sinfonien 1-3 die Streicher derart unterbelichtet, dass Bläserdoppelungen als Hauptstimmen wahrgenommen werden und wichtige melodische Elemente übertönt werden. Das mag daran liegen, dass man sich an überlieferten Besetzungen des Wiener Konvikts, in dem die Uraufführungen wohl stattfanden, orientiert hat, verzerrt jedoch die Balance und führt meinerseits zur Abwertung. Die Einspielung der orchestralen Fragmente ist sicherlich verdienstvoll, wäre aber in einem Anhang besser aufgehoben gewesen, auch wenn sie motivisch und tonartlich zu den vollendeten Kompositionen passen mögen. So stellt sich eher Frustration über im Nirwana verpuffende beeindruckende Anfänge ein. Während man den Sinfonien mit Genuss mehrfach lauschen möchte, wird man nach erstmaligem Hören wahrscheinlich zur Fernbedienung greifen, um die Bruchstück-Tracks zu überspringen.
Das Klangbild dieser weitgehend live aufgenommenen Einspielung ist bläserdominiert. Hier hätten den Streichern ein paar Stützmikrophone gute Dienste leisten können. Der Booklet-Text von Michael Kube ist exzellent.
Fazit: Eine sehr gute Aufnahme der Schubert-Sinfonien auf historischem Instrumentarium, die sich alle Orchesterbläser anhören sollten, um zu erfahren, wie der reichhaltige Bläsersatz Schuberts perfekt auf „alten Instrumenten“ realisiert werden kann und welche Farben dabei zur Verfügung stehen. Die entschlackten Sinfonien 5, 7 und 8 auf Referenzniveau können allen Hörern anempfohlen werden. Die teilweise unbefriedigende Klangbalance und die Anordnung der Fragmente halten mich jedoch von einer Bestbewertung ab.
Thomas Baack [27.01.2022]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Franz Schubert | ||
1 | Sinfonie Nr. 1 D-Dur D 82 | 00:28:10 |
5 | Ouvertüre D-Dur D 2A (Fragment) | 00:03:24 |
6 | Sinfonie D-Dur D 2B (Fragment) | 00:01:34 |
7 | Ouvertüre D-Dur D 2G (Fragment) | 00:02:50 |
8 | Orchesterstück D-Dur D 74A (Fragment) | 00:00:26 |
9 | Orchesterstück D-Dur D 71C (Fragment) | 00:02:41 |
10 | Sinfonie Nr. 2 B-Dur D 125 | 00:28:22 |
14 | Orchesterstück B-Dur D 94A (Fragment) | 00:00:58 |
CD/SACD 2 | ||
1 | Sinfonie Nr. 3 D-Dur D 200 | 00:24:14 |
5 | Sinfonie Nr. 5 B-Dur D 485 | 00:27:08 |
9 | Sinfonie Nr. 7 h-Moll D 759 (Unvollendete) | 00:25:49 |
11 | Sinfonie Nr. 7 h-Moll D 759 (Unvollendete) | 00:00:36 |
CD/SACD 3 | ||
1 | Sinfonie Nr. 4 c-Moll D 417 (Tragische) | 00:32:06 |
5 | Sinfonie Nr. 6 C-Dur D 589 (Kleine C-Dur-Sinfonie) | 00:32:35 |
9 | Sinfonie E-Dur D 729 | 00:05:46 |
CD/SACD 4 | ||
1 | Sinfonie Nr. 8 C-Dur D 944 (Große C-Dur-Sinfonie) | 01:01:02 |
Interpreten der Einspielung
- L' Orfeo Barockorchester (Orchester)
- Michi Gaigg (Dirigentin)