BACH: The Art of Life
Daniil Trifonov
DG 483 8530
2 CD • 2h 16min • 2020, 2021
02.12.2021
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Daniil Trifonov, der in Konzerten schon länger ein deutlich breiteres Repertoire pflegt, hat auf Tonträgern bislang fast ausschließlich, dazu überwiegend russische, Musik der Romantik und des frühen 20. Jahrhunderts eingespielt. So macht sein neues Album mit Musik der Bach-Familie, in dessen Zentrum Die Kunst der Fuge Johann Sebastian Bachs steht, doppelt neugierig. Im Booklet postuliert Trifonov einen, neben dem Glauben gleichermaßen im Kreis seiner großen Familie tief verwurzelten, dabei glücklichen Menschen. Abgesehen vom frühen Tod dessen erster Frau, Maria Barbara, den er in der düsteren Chaconne der d-Moll Violinpartita BWV 1004 reflektiert sieht – hier in der Brahms-Fassung für die linke Hand gespielt –, entdeckt er den Einfluss des Vaters und Anna Magdalena Bachs als Lehrer ebenso im stilistisch enorm vielfältigen Werk der vier komponierenden Bach-Söhne – eine „Kunst des Lebens“, die dann im Mythos des letzten, womöglich bewusst (?) unvollendeten Werkes essenziellen Ausdruck findet.
Romantische Sichtweise, glaubhaft präsentiert
Wie dies Trifonov auf dem modernen Flügel umsetzt, mag dogmatische Verfechter historischer Aufführungspraxis möglicherweise die Nase rümpfen lassen, setzt der Pianist dabei doch ganz auf eine romantische Tradition der Bach-Sicht. Betrachtet man die großartigen Bach-Interpreten der russischen Schule, muss man dabei wohl noch vor die Generation eines Gilels, Richters oder einer Nikolajewa zurückgehen, besonders auf Samuil Feinberg. Hier zeigt sich aber auch, dass es vor allem auf Klavierschulen der Romantik fußende, klangliche Möglichkeiten sind, die Trifonov kongenial nutzt, weniger emotional deplatzierte Romantisierungen musikalischer Inhalte. Absolut staunenswert ist einmal mehr die Anschlagskunst des Pianisten: Im Fingerspiel meist ein trennscharfes non legato, das dann gleichzeitig durch absolut durchdachten und perfekten Einsatz der Pedale und differenziertester Dynamik sowohl melodische Linienführungen plastisch – und gesanglich (!) – werden lässt als auch die Harmonik in allen Schattierungen und völliger Klarheit zur Geltung bringt; alles mit großer Wärme und Empathie.
Gehaltvolle Miniaturen und entdeckenswerte Variationen
Das gelingt vom simplen, allen Klavierschülern bestens bekannten G-Dur-Menuett Christian Petzolds, das Eingang ins Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach gefunden hat, über das quirlige Presto aus Johann Christian Bachs Sonate Nr. 5 A-Dur bis hin zum famosen Allegretto con variazioni Johann Christoph Friedrich Bachs über „Ah, vous dirai-je, Maman“, hierzulande mit dem Text „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ geläufig. Dieses erweist sich wohl für viele Hörer als echte Entdeckung, den – allerdings älteren – Variationen Mozarts (KV 265, 300e) vom musikalischen wie pianistischen Anspruch haushoch überlegen. Zwei der dargebotenen Moll-Polonaisen deutet Trifonov als Psychogramme von Trauer, während er die Transkription der Violinchaconne mit allem Respekt vor dem Original wiedergibt – was bei der Busoni-Fassung kaum mehr gelänge – ohne jede emotionale Überfrachtung, aber mit ernstem Gehalt und vollendetem Verständnis für die teils versteckte Polyphonie. Damit ist der Hörer auch in der Tonart des folgenden Mammutwerks angekommen.
Perfekte, jedoch nie unterkühlte Strukturen
Für die ungleich komplexere und strengere Kontrapunktik der Kunst der Fuge hat sich Trifonov gleich mehrere Deutungsmuster zurechtgelegt, die ihm eine stringente Wiedergabe dieser im Notenbild zunächst staubtrockenen Materie als echten Zyklus mit einer auf den von Bach unvollendeten Contrapunctus 14 hinführenden Teleologie ermöglichen. In diesen 14 Fugen – deren letzte mit dem hinzutretenden B-A-C-H-Motiv Trifonov selbst stilistisch gekonnt zu Ende führt – und 4 Kanons gibt es ja weder Hinweise auf Instrumente, Tempi noch Dynamik, so dass Musiker gut daran tun, sich ein genauestes Bild dieses strukturellen Labyrinths über ein einziges Thema zu machen, bevor sie sich überhaupt an eine klingende Realisation wagen. Bei mehreren der Fugen reizt Trifonov deren Ruhe bis an die Grenze aus – ohne die Spannung zu brechen. Andererseits verblüfft die äußerste Virtuosität etwa bei den beiden Versionen von Contrapunctus 13 oder den Kanons – wer sonst kann das so spielen und dabei das Stimmengewebe makellos darstellen? Jede Phrase wird durch die hochkonzentrierte, organische Gestaltung sinnfällig, lässt einen nie kalt. Wenn der Pianist die Anwendung mathematischer Prinzipien in der Komposition hier gar mit modernsten physikalischen Theorien vergleicht, wagt er sich zwar arg aus dem Fenster. Seine lebendige, eben nie verkopfte, Darbietung begeistert dafür in jeder Sekunde und gehört – ganz sicher auf dem Klavier – nun zu den wirklich faszinierendsten Auseinandersetzungen mit diesem Rätselwerk. Aufnahmetechnisch gibt es überhaupt nichts zu meckern; damit ein Muss für alle Bach-Freunde – für die Fans des Pianisten sowieso.
Martin Blaumeiser [02.12.2021]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Johann Christian Bach | ||
1 | Klaviersonate Nr. 5 A-Dur op. 17 Nr. 5 | 00:06:15 |
Wilhelm Friedemann Bach | ||
3 | Polonaise Nr. 8 e-Moll Fk 12/8 | 00:05:17 |
Carl Philipp Emanuel Bach | ||
4 | Rondo c-Moll Wq 59/4 | 00:04:47 |
Johann Christoph Friedrich Bach | ||
5 | Allegretto con variazioni G-Dur Wf 12/2 (Ah, vous dirai-je, maman) | 00:08:48 |
Johann Sebastian Bach | ||
24 | Musette D-Dur BWV Anh. 126 (aus Clavier-Büchlein für Anna Magdalena Bach 1725) | 00:00:56 |
25 | Aria Gedenke doch, mein Geist, zurücke BWV 509 (aus Clavier-Büchlein für Anna Magdalena Bach 1725) | 00:00:42 |
26 | Minuet a-Moll BWV Anh. 120 (aus Clavier-Büchlein für Anna Magdalena Bach 1725) | 00:01:34 |
27 | Minuet F-Dur BWV Anh. 113 (aus Clavier-Büchlein für Anna Magdalena Bach 1725) | 00:02:57 |
28 | Polonaise F-Dur BWV Anh. 117a/b (aus Clavier-Büchlein für Anna Magdalena Bach 1725) | 00:00:57 |
29 | Polonaise d-Moll BWV Anh. 128 (aus Clavier-Büchlein für Anna Magdalena Bach 1725) | 00:03:42 |
30 | Choral Gib dich zufrieden und sei stille BWV 511 (aus Clavier-Büchlein für Anna Magdalena Bach 1725) | 00:01:05 |
31 | Minuet g-Moll BWV Anh. 114 (aus Clavier-Büchlein für Anna Magdalena Bach 1725) | 00:01:46 |
32 | Minuet G-Dur BWV Anh. 116 (aus Clavier-Büchlein für Anna Magdalena Bach 1725) | 00:01:12 |
33 | Polonaise g-Moll BWV Anh. 125 (aus Clavier-Büchlein für Anna Magdalena Bach 1725) | 00:01:09 |
34 | Minuet c-Moll BWV Anh. 121 (aus Clavier-Büchlein für Anna Magdalena Bach 1725) | 00:01:34 |
35 | Aria Bist du bei mir BWV 508 (aus Clavier-Büchlein für Anna Magdalena Bach 1725) | 00:03:29 |
36 | Chaconne d-Moll (für die linke Hand. Studien für Klavier Nr. 5. Transkription des letzten Satzes aus Partita Nr. 2 für Violine solo BWV 1004) | 00:15:01 |
37 | Die Kunst der Fuge BWV 1080 (Contrapunctus 1-5) | 00:13:28 |
CD/SACD 2 | ||
1 | Die Kunst der Fuge BWV 1080 (Contrapunctus 6-14) | 00:57:40 |
16 | Wohl mir, daß ich Jesum habe (aus Herz und Mund und Tat und Leben BWV 147) | 00:04:19 |
Interpreten der Einspielung
- Daniil Trifonov (Klavier)