Busoni
The 6 Sonatinas
Victor Nicoara
hänssler CLASSIC HC20086
1 CD • 71min • 2019
20.07.2021
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Die Musik des Deutsch-Italieners Ferruccio Busoni (1866-1924) hat leider immer noch nicht den ihrer Qualität und historischen Bedeutung angemessenen Platz in den Konzertsälen der Welt gefunden. Nach dem Tod von Anton Rubinstein 1894 waren er und Leopold Godowsky eigentlich die unbestrittenen Platzhirsche auf den internationalen Klavierpodien. Busonis Einsatz für die zeitgenössische Musik allgemein, sein in der berühmten Schrift „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ geforderter Aufbruch und die Komponistenschmiede seiner Berliner Meisterklasse sind legendär. Seit gut drei Jahrzehnten wird auch öfters seine nicht mehr ganz vollendete Oper Doktor Faust an den großen Häusern gespielt und ein paar Virtuosen, die über Rachmaninoff hinauswachsen, wagen sich an das monumentale Klavierkonzert. Die Soloklavierwerke werden hingegen noch immer stiefmütterlich behandelt – bis auf ein paar Bach-Bearbeitungen.
Sonatinen für neugierige Erwachsene
Busoni hat seine Frühwerke – er komponierte bereits mit sieben – dadurch relativiert, dass er Mitte der 1890er seine Opuszahlen nochmals bei Eins begann. Was dann folgt, ist oft sperrig, komplex und nicht unmittelbar eingängig; dafür immer bis ins kleinste Detail durchdacht. Die sechs anspruchsvollen zwischen 1910 und 1920 entstandenen Sonatinen richten sich so – vielleicht bis auf die spieltechnisch etwas leichtere dritte – weniger an brave Klavierschüler als an ein aufgeschlossenes, pianistisch bereits sehr versiertes und mit der Geschichte der Klaviermusik vertrautes Publikum. Alle im Schnitt unter 10 Minuten dauernden Stücke sind völlig unterschiedlich. Spielen die Sonatinen 4 und 5 vor allem mit der Polyphonie Bachs – ohne diese billig zu imitieren –, ist die letzte (Kammer-Fantasie über Bizets Carmen) nur auf den ersten Blick ein Potpourri: Da werden nicht unbedingt nur die bekanntesten Melodien der Oper intelligent in einen zyklischen Zusammenhang gebracht, virtuos kontrapunktisch angereichert und höchst individuell paraphrasiert. Das Ganze endet leise und ist so ungefähr das Gegenteil von Horowitz‘ späterer Shownummer.
Vom atonalen Schocker zur Jungen Klassizität
Spiegeln die letzten vier Sonatinen bereits Busonis Weg zu einer von ihm postulierten „Jungen Klassizität“, ist die Sonatina seconda zweifellos ein Beispiel echter Avantgarde: Weitgehend ohne Taktstriche notiert, bi- bzw. atonal und mit einem völlig ungewöhnlichen Ausdrucksbogen, wird das Stück nicht umsonst in einem Atemzug mit Schönbergs Klavierstücken op. 11 genannt. Gerade hier zeigt der in Berlin lebende Rumäne Victor Nicoara, dass er nicht nur technisch Busonis knifflige Tonsprache beherrscht. So eindringlich wurde dieses Stück bisher kaum je ausgeleuchtet. Die teils schroff kontrastierenden Charaktere entfalten punktgenau ihre unheimlichen Kräfte – und wirken innerhalb des Kontextes immer sinnstiftend. Klanglich gefällt Nicoaras durchgehend warmer Tonfall mit großartiger Pedalisierung – Marc-André Hamelin bleibt hier oft erstaunlich distanziert. Die Sonatine über Carmen ist ergreifend, dabei dennoch höchst unterhaltsam. Insgesamt gelingt Nicoara eine höchst ausdifferenzierte, klar formulierte „Deutung“ dieser nie einfachen Musik. Die kontrapunktischen Strukturen entwickeln sich, selbst da, wo sie zunächst trivial erscheinen, zu typisch busonischen Arabesken.
Kluge Ergänzungen und eine katastrophale Übersetzung
Die zusätzlichen Stücke sind klug gewählte Ergänzungen; man spürt die Ernsthaftigkeit des Komponisten auch bei vermeintlichen Petitessen. Das kurze Sonatinenfragment von 1914 erscheint als Ersteinspielung; ebenso natürlich Nicoaras eigene Auseinandersetzung mit der Klaviersonatine. Ausdrücklich loben muss man das ausgewogene, stets dynamisch weite und nie zu trockene Klangbild dieser CD. Mag man noch über das Layout des Booklets – nur in Großbuchstaben – streiten, ist die deutsche Übersetzung von Nicoaras eigentlich guten Liner Notes eine Katastrophe. Petra Sailer beherrscht zwar das Gendersternchen, dafür wimmelt der oft missverständlich übertragene Text nur so von Kommafehlern. Sei’s drum: Nicoara setzt hier mit den Busoni-Sonatinen ein echtes Ausrufezeichen!
Vergleichsaufnahmen (Sonatinen): Marc-André Hamelin (Hyperion CDA67951/3, 2011-12); Geoffrey Douglas Madge (Philips 420 740-2, vor 1987).
Martin Blaumeiser [20.07.2021]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Ferruccio Busoni | ||
1 | Albumblatt Nr. 2 BV 289 – Andante | 00:01:49 |
2 | Sonatine Nr. 3 BV 268 (Ad usum infantis Madeline M. Americanae) | 00:06:46 |
3 | Sonatine Nr. 5 K 280 (Sonatina brevis in signo Joanni Sebastiani magni) | 00:05:40 |
4 | Sonatine Nr. 4 BV 274 (In diem nativitatis Christi MCMXVII) | 00:08:29 |
5 | Sonatine Nr. 6 BV 284 (Super Carmen) | 00:07:35 |
6 | Albumblatt Nr. 1 BV 259 – Andante sostenuto | 00:03:02 |
7 | Sonatine Nr. 1 BV 257 | 00:10:57 |
8 | Albumblatt Nr. 3 BV 289 | 00:05:48 |
9 | Nuit de Noël BV 251 (Esquisse pour le Piano) | 00:04:00 |
10 | Sonatine Nr. 2 BV 259 | 00:09:06 |
11 | Sonatina quasi Sonata (Fragment) | 00:00:55 |
Victor Nicoara | ||
12 | Quasi Sonatina | 00:06:30 |
Interpreten der Einspielung
- Victor Nicoara (Klavier)