Roger Willemsen
Landschaften
Zweitausendeins 230163
1 CD • 1h 28min • 2019
01.05.2021
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Der Publizist Roger Willemsen (1955-2016) war zu einer Zeit, in der die Öffentlich-Rechtlichen Medien ihren Kulturauftrag noch hoch hielten, ein viel beschäftigter Fernseh-Star mit eigenen Sendungen („Willemsens Woche“) und vielen Auftritten in Talkshows. Mit Beginn des neuen Jahrtausends zog er sich schrittweise aus diesem Metier zurück und konzentrierte sich auf öffentliche Auftritte mit literarischen und musikalischen Programmen. Das letzte entwickelte er gemeinsam mit der Geigerin Franziska Hölscher, die ihre Ex-Kommilitonin Marianna Shirinyan als Pianistin mitbrachte. Es kam aber nur zu einer gemeinsamen Aufführung, da Willemsen an Krebs erkrankte und kurz darauf starb. Die bekannte Filmschauspielerin und Regisseurin Maria Schrader übernahm auf seinen Wunsch seinen Lese-Part und sorgte mit weiteren Auftritten dafür, dass dieses Programm und damit auch der Autor Willemsen im Bewusstsein der Leser lebendig blieb.
Heimat im Wandel
Der Titel „Landschaften“ ist dabei durchaus in einem übertragenen Sinne aufzufassen. Es geht in den Texten, die teilweise aus früheren Publikationen („Deutschlandreise“, „Die Enden der Welt“) stammen, nicht um ausführliche Naturbeschreibungen, wie wir sie in Romanen insbesondere des 19. Jahrhunderts antreffen, sondern um menschliche Befindlichkeiten in fremden wie in vertrauten Umgebungen. Der Begriff „Heimat“, der im ersten Essay reflektiert wird, ist auf der folgenden literarisch-musikalischen Exkursion – auch unausgesprochen – allgegenwärtig. Willemsen bezieht sich dabei auf Seneca, der in einem Gedicht festhält: „Nichts an der alten Stelle lässt ruhen/Die wandernde Welt“. In Berlin interessiert ihn nicht der Grunewald oder der Wannsee, sondern das Leben an einem Bahnsteig und in der Untergrundbahn. Auf der Schwäbischen Alb bleibt ihm vor allem die Begegnung mit einem alten Mann haften, der aus dem Fenster eines Krankenhauses anmerkt: „Dieses Haus ist so amusisch“. Mit Ironie, die liebgewordene Klischees nicht ausspart, tut er sich in Bayern um. Der Kreidefelsen in Rügen wirkt aus Touristensicht wie eine Werbe-Ikone.
Korrespondenzen, Kontrapunkte
Die Musik illustriert die Texte nicht, vielmehr ging es darum, Korrespondenzen zwischen beiden herzustellen, die Gedankenräume emotional zu erweitern oder auch zu kontrapunktieren. Es gab bei der Vorbereitung des Programms zwischen Willemsen und den Musikerinnen einen intensiven künstlerischen Austausch auf Augenhöhe. Wie die Pianistin Marianna Shirinyan sagt: „Für ihn stand die Musik im Mittelpunkt, für uns die Texte“. Die Sonate c-moll BWV 1017 bildet so etwas wie den musikdramaturgischen Rahmen. Franziska Hölscher fühlt sich dabei „an den klagenden Siciliano der Matthäus-Passion“ erinnert. Bartóks Rumänische Volkstänze geben ein bodenständiges Fundament für die Reisebetrachtungen aus Belgrad, Sofia und Bukarest und die Gedanken zu Europa, die sie beim Autor auslösen. Vitale Kontraste zu dessen Nachdenklichkeit setzen die Stücke von Ravel, Gershwin und dem Armenier Alexander Arutjunian, aber auch das Vivace aus Brahms’ A-Dur Sonate op. 100.
Die Wiedergabe dieses Gedenk-Programmes ist anrührend und persönlich im Ton. Maria Schrader liest Willemsens Texte mit bewundernswerter Klarheit und Schlichtheit. Franziska Hölschers warme Violinkantilenen, die nicht nur in der Improvisation des 23jährigen Richard Strauss bezaubern, sondern auch bei Bach ungewohnte Wirkung tun, verbinden sich glücklich mit dem rassig-temperamentvollen Klavierspiel von Marianna Shirinyan, die in den Stücken von Arutjunian und Gershwin auch solistisch brilliert. Wer am Ende seines künstlerischen Weges solche Mitstreiterinnen gefunden hat wie Willemsen, der hat wahrlich nicht umsonst gelebt.
Ekkehard Pluta [01.05.2021]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Johann Sebastian Bach | ||
1 | 1. Satz Largo aus Sonate c-Moll BWV 1017 | |
Béla Bartók | ||
3 | Allegro moderato aus Rumänische Volkstänze | |
5 | Andante aus Rumänische Volkstänze | |
Richard Strauss | ||
7 | 2. Satz Improvisation. Andante cantabile aus Sonate Es-Dur op. 18 | |
Maurice Ravel | ||
9 | 2. Satz Blues. Moderato aus Sonate G-Dur | |
Alexander Arutjunjan | ||
11 | Sassoun Tanz | |
Maurice Ravel | ||
13 | 3. Satz Perpetuum mobile. Allegro aus Sonate G-Dur | |
Anton Webern | ||
14 | I. Sehr langsam aus Vier Stücke op. 7 | |
Johann Sebastian Bach | ||
16 | 3. Satz Adagio aus Sonate c-Moll BWV 1017 | |
Johannes Brahms | ||
18 | 2. Satz Andante tranquillo - Vivace - Andante aus Sonate A-Dur op. 100 | |
George Gershwin | ||
20 | Prelude Nr. 1 | |
Johann Sebastian Bach | ||
22 | 1. Satz Largo aus Sonate c-Moll BWV 1017 |
Interpreten der Einspielung
- Maria Schrader (Sprecherin)
- Franzsika Hölscher (Violine)
- Marianna Shirinyan (Klavier)