Carl Heinrich Graun
Polydorus
cpo 555 266-2
2 CD • 1h 56min • 2018
27.07.2020
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Carl Heinrich Graun (1704-1759) ist als Hofkapellmeister und –komponist Friedrichs des Großen, für den er nicht weniger als 28 Opern schrieb, in die Geschichte eingegangen. Sein Montezuma auf ein Libretto des Königs wird auch in unserer Zeit immer wieder einmal gespielt. Bevor er nach Berlin kam, war er jedoch schon am Braunschweiger Hof als Tenorist und Kapellmeister tätig und hat auch dort schon einige Opern komponiert. Die fünfaktige deutsche Oper Polydorus soll er 1726 zur Braunschweiger Sommermesse geschrieben haben, das Libretto wurde allerdings erst fünf Jahre später gedruckt. Johann Samuel Müller hat es nach einer italienischen Vorlage verfasst.
Antikes griechisches Drama
Der mythische Polydoros, Sohn des trojanischen Königs Priamos, hat in der Dichtung der Antike verschiedene Ausdeutungen erfahren. Im Drama Hekabe von Euripides wird er nach dem Fall Trojas von seinem Vater zu seiner ältesten Schwester Iliona geschickt, die mit dem thrakischen König Polymestor verheiratet war. Dieser tötet ihn aus Habgier und wirft den Leichnam ins Meer. In einer späteren römischen Quelle (Hyginus) soll Polydoros den Griechen ausgeliefert werden, aber Iliona, die ihren Bruder zärtlich liebt, vertauscht ihn gegen den eigenen Sohn, nach dessen Opferung sie gemeinsam mit Polydoros den verräterischen Gatten Polymestor umbringt. Daran schließt die Opernhandlung an, in deren Mittelpunkt der schwere Konflikt Ilionas zwischen Bruder- und Sohnesliebe steht und die innige Freundschaft der beiden Jünglinge, Polydoros und Deiphilos, der sich für den anderen willig opfert. Als zusätzliches Movens der Handlung agiert Hektors Witwe Andromache, die vom Griechenführer Pyrrhus begehrt wird, aber Polydoros liebt, den sie bis zuletzt für Deiphilos hält.
Das Bild auf dem Booklet-Cover, Guérins Andromaque et Pyrrhus (1810), hat übrigens mit der Opernhandlung nichts zu tun, sondern bezieht sich auf das Drama Andromaque (1667) von Racine, in dem die Protagonistin zustimmt, den verhaßten Feind Pyrrhus zu heiraten, um das Leben ihres Sohnes und ihr eigenes zu retten.
Musikalisch lohnende Ausgrabung
Ob Polydorus auf der heutigen Bühne trotz der anhaltenden Renaissance der Barockoper eine wirkliche Wiederbelebungschance hätte, sei dahingestellt. Der stetige Wechsel von Rezitativen, Accompagnati und Dacapo-Arien, der die Handlung nur mählich vorantreibt und nur wenige äußerliche dramatische Höhepunkte hat – den Tanz der Furien und die Erscheinung des toten Deiphilos –, bietet kaum Futter für die Regie. In musikalischer Hinsicht aber hat sich die Ausgrabung gelohnt. Schon vor seiner Berliner Zeit war Graun ein ausgereifter Meister seines Metiers, dabei von nie ermüdender melodischer Einfallskraft. Manches klingt noch nach Händel, aber auch in den virtuosen Passagen strebt der Komponist nach dramatischer Wahrheit, die musikalische Linie entfernt sich nie von der Aussage des Textes. Und so kann man die heftigen Emotionen Ilionas und Andromaches ebenso gut nachvollziehen wie den Edelmut und den Idealismus der beiden jungen Männer. Selbst mit dem feigen Bösewicht Polymnestor, der nicht gemerkt hat, dass er den eigenen Sohn geopfert hat, empfindet man in seiner Schlussarie („Armer Geist, zerbrich die Bande“) so etwas wie Mitleid. Lediglich der Griechenführer Pyrrhus, dem nur am Anfang eine Arie zugestanden wird, in der er seinem Begehren Andromaches Ausdruck verleiht, bleibt ein Pappkamerad.
Überzeugende Interpretation
Ira Hochman, die mit dem Ensemble barockwerk hamburg vor zwei Jahren Georg Caspar Schürmanns Die getreue Alceste entdeckt und wieder belebt hat, ist mit dieser frühen Graun-Oper ein weiterer glücklicher Fund gelungen. Die Interpretation lässt keine Wünsche offen. Wieder überzeugen der klare Zugriff der entschieden artikulierenden Dirigentin und das präzise und eindringliche Spiel der 20 spezialisierten Musiker. Etwas irritierend und den dramatischen Fluß hemmend sind die Stockungen zwischen Rezitativen und Arien und manchmal auch vor den dacapos. Es kommen dieselben Sänger zum Einsatz wie in Schürmanns Oper, doch sind sie hier in virtuoser Hinsicht noch mehr gefordert, auch die Bassisten haben Koloraturen zu bewältigen. Die beiden lyrischen Sopranstimmen von Hanna Zumsande (Ilione) und Santa Karnīte (Andromache) heben sich gut voneinander ab, der Altus Alon Hararis (Polydorus) klingt männlich-edel und der Tenor Mirko Ludwigs (Deiphilos) blüht mozartisch auf. Auch die drei tiefen Männerstimmen (Fabian Kuhnen als Polymnestor, Andreas Heinemeyer als Dares und Ralf Grobe als Pyrrhus) hinterlassen einen nachhaltigen Eindruck. Sänger und Musiker zeigen sich als gut eingespieltes Team.
Ekkehard Pluta [27.07.2020]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Carl Heinrich Graun | ||
1 | Polydorus (Oper in fünf Akten) | 01:56:00 |
Interpreten der Einspielung
- Hanna Zumsande (Ilione - Sopran)
- Santa Karnīte (Andromache - Sopran)
- Alon Harari (Polidorus - Alt)
- Mirko Ludwig (Deiphilus - Tenor, Geist des Deiphilus - Tenor)
- Fabian Kuhnen (Polymnestor - Baß)
- Ralf Grobe (Pyrrhus - Baß)
- Andreas Heinemeyer (Dares - Baß)
- barockwerk hamburg (Ensemble)
- Ira Hochmann (Dirigentin)