Carl Czerny
Die Kunst des Präludierens
Sämtliche Präludien
cpo 555 169-2
2 CD • 1h 56min • 2016, 2017, 2018
11.11.2019
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Ähnlich wie heute im Jazz war es für alle Instrumentalisten bis ans Ende des 19. Jahrhunderts zwingend erforderlich, kurze bis mittellange Stücke improvisieren zu können. Hierzu erschien eine durchaus reichhaltige und hinsichtlich Aufführungspraxis interessante Literatur im Druck, angefangen von Jacques Hotteterres „L’art du préluder“ (1707) für Holzbläser bis zu Muzio Clementis „Préludes et Excercises“ (1811) für Klavier, die Chopin im Unterricht mit seinen Schülern regelmäßig durchnahm. Musikalisch basiert hier Vieles auf der kunstvollen Ausschmückung einer erweiterten Kadenz oder einer modulierenden Folge von Akkorden, wie sie sich auch in vielen der kleinen Präludien J. S. Bachs oder den nur als Generalbass notieren Abschnitten in den Fantasien von dessen Söhnen finden und dort frei gestaltet werden müssen. Auch waren sie höchst nützlich, wenn es galt, ein fremdes Instrument hinsichtlich Anschlag bzw. Ansprache und Stimmung auf geschmackvolle Weise zu prüfen.
Carl Czerny – Schüler nicht nur Beethovens sondern auch Clementis – schrieb die „Kunst des Präludierens“ op. 300 (vor 1833) als Ergänzung zu seiner „Systematischen Anleitung zum Fantasieren auf dem Pianoforte“ op. 200 (1829), wobei für Neulinge in der Materie die umgekehrte Reihenfolge sinnvoller erscheinen mag. Als erfahrener Pädagoge geht er von jeweils fünf sowohl in Dur als auch in Moll notierten Modellen sukzessiv erweiterter Kadenzen aus, aus denen danach 59 unterschiedlich figurierte Sätze von bis zu einer Minute Dauer entwickelt werden. Bereits hier erstaunt die Mannigfaltigkeit der pianistischen Spielformen, der Stimmungen und der Tonarten. Die Nummer 60 listet die Modulationswege von C-Dur in jede andere Durtonart auf, die in den folgenden 12 Nummern in unterschiedlichen Tonarten ausgeführt werden. Solche modulierenden Abschnitte, die natürlich auch einer pompösen Einleitung dienen konnten, halfen dem Improvisator – wenn über eine Reihe von populären Themen auf Zuruf improvisiert werden musste –, die einzelnen Abschnitte in der Manier eines Rondos zusammenzuhalten und sich auf die neuen Motive über automatisierte Gänge innerlich vorzubereiten.
Ab ca. Nummer 90 folgen dann die längeren, unter Zuhilfenahme der obigen Formeln über mehrere Minuten ausgeführten Beispiele. Diese können bereits als „Impromptus“, „Lieder ohne Worte“, Nocturnes, Capricci oder Etüden en minature betrachtet werden. Pianisten, die auf der Suche nach originellen Zugaben sind, werden etwa ab Nummer 98 fündig. Stilistisch reicht die Bandbreite von den Bach-Söhnen über Mozart, Beethoven und Rossini bis zu Mendelssohn und Schumann.
Kolja Lessing präsentiert dieses wahrlich abseitige, hochinteressante und teilweise virtuose Fähigkeiten fordernde Repertoire mit technischem Schliff, hoher musikalischer Intelligenz, Reaktionsgeschwindigkeit, federnder Artikulation und einem sich übertragenden genuinen Spaß am klavieristischen Tun. Lyrische Stücke erhalten die ihnen zustehende Poesie, rasante den nötigen Aplomb. Besser kann man für den immer noch unterschätzten Komponisten Czerny nicht werben! Auch der höchst kenntnisreich Querverweise herstellende Booklet-Text zeugt von Lessings Wertschätzung und intensiver Beschäftigung mit Czernys op. 300. Die Tontechnik bietet einen natürlichen, vielleicht eine Spur zur Trockenheit tendierenden Klavierklang. Fazit: Genießern und musikalischen Quizmastern sei empfohlen, mit CD 2 zu beginnen, die durchwegs reizvolle kurze Stücke enthält. Fachkundige sollten sich die Noten im Internet besorgen, um sich dann zwei durchaus lehrreiche Hörstunden zu gönnen. Höchste Empfehlung für diese Weltersteinspielung, der hoffentlich bald eine Auswahl aus Czernys Opus 200 folgt!
Thomas Baack [11.11.2019]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Carl Czerny | ||
1 | Die Kunst des Präludierens op. 300 | 01:56:26 |
Interpreten der Einspielung
- Kolja Lessing (Klavier)