Michael Gielen
Aufführungen 1971 & 2013
SWRclassic SWR19080CD
3 CD • 2h 53min • 1971, 2013, 2001
06.09.2019
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Die Idee, die hinter dieser Veröffentlichung steht, ist zweifellos großartig und aller Ehren wert: Zum Gedenken an Michael Gielen hat der SWR eine drei CDs umfassende Veröffentlichung vorgelegt, auf denen der Geehrte eine frühe und seine letzte Einspielung der Sechsten Symphonie Gustav Mahlers leitet, jenes Stückes, das er am häufigsten in Konzerten zu Gehör gebracht hat. Während die Aufnahme von 1971 mit ihren 74 Minuten auf eine Scheibe passte, dauert diejenige von 2013 ganze 94 Minuten und musste auf zwei CDs verteilt werden. Beide Male spielt das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, dem Gielen 13 Jahre als Chefdirigent vorstand, und dem er bis zum Ende seiner Tätigkeit als Ehrendirigent verbunden blieb. Da das Orchester mittlerweile durch Zwangsfusion untergegangen ist, wird mit dieser Edition auch ihm ein Denkmal gesetzt. Das Beiheft informiert ausführlich über Gielens Haltung zu Mahlers Sechster und das mit dem Werk verbundene Editionsproblem, das sich in den beiden Aufnahmen niedergeschlagen hat: Während Gielen die Mittelsätze 1971 in der Reihenfolge Scherzo–Andante dirigiert, lässt er 42 Jahre später das Andante vor dem Scherzo spielen. Auf der dritten CD kommt der Dirigent selbst zu Wort: Nach dem Finale der Symphonie findet sich ein kurzer Ausschnitt aus einem 2001 aufgezeichneten Rundfunkgespräch zwischen Gielen und Paul Fiebig, in welchem Gielen anhand des nachträglich gestrichenen dritten Hammerschlages im Finale (den er nicht eigenmächtig wieder eingeführt hat) kurz seine Ansicht über die Frage „War Mahler gläubig?“ darlegt.
Der Rahmen ist also prächtig bereitet, doch welches Bild umschließt er? Michael Gielen gilt als einer der großen Analytiker unter den Dirigenten. Wie viel Wert er darauf legte, ein Werk vor der Aufführung bis in die letzten Einzelheiten hinein studiert zu haben, ist bekannt. Niemand kann an der guten Absicht zweifeln, die sich damit verbindet. Aber unter welchem Gesichtspunkt wurde hier analysiert? Ist Analyse nur eine Bestandsaufnahme des Materials, aus dem sich ein Gegenstand oder ein Lebewesen zusammensetzt? Oder soll die Analyse auch klären, wie der Gegenstand durch die Zusammensetzung seines Materials sein bestimmtes Gepräge erhält? Dienen nicht selbst die Analysen des toten Gewebes letztlich dazu, die Funktionsweisen des lebendigen Leibes zu ergründen? Ist auf das musikalische Kunstwerk bezogen Analyse nur eine zerlegende Tätigkeit oder dient sie nicht auch dazu, dem Kunstwerk in der Aufführung zu einem lebendig tönenden Leib zu verhelfen?
Die Genauigkeit, mit der Gielen in beiden Aufnahmen die Töne wiedergeben lässt, wie es in der Partitur vorgeschrieben ist, verdient als handwerkliche Leistung durchaus Anerkennung. Wer hören will, was in den Noten steht, wird in diesen Darbietungen fündig. Vielleicht wird jener Hörer durch sie aber auch auf die Frage gelenkt werden, ob Musik nicht doch noch mehr ist als das, was in den Noten steht?
Gielens entscheidende Schwäche liegt im Metrischen, in der Erfassung der großen Zusammenhänge des musikalischen Verlaufs und der Relation der einzelnen Takte, Phrasen, Perioden zueinander. Zwar belegen die Aufnahmen sein sehr stark ausgebildetes Gespür für Detailarbeit, aber diesem steht kein nennenswertes für den Stellenwert eines Taktes innerhalb einer Taktgruppe, einer Taktgruppe innerhalb einer Periode gegenüber. Das Ausschwingen der Töne, das Nachhören, das Fernhören hat in seiner Interpretation keinen Platz. Er lässt die Töne genau nach der vorgeschriebenen Länge abreißen. Wenn ein Akzent darüber steht, klingt der Einschnitt besonders heftig. Bei Bindebögen wird zwar über die Länge des Bogens gebunden, dann aber wieder abgerissen und der nächste Ton in gleicher Stärke angesetzt. Überall entstehen dadurch kleine Lücken in der Melodik, die einen Spannungsaufbau über größere Zeiträume behindern und die Musik insgesamt steif und porös machen. Gielen deckt nahezu jeden Kontrapunkt auf. Wenn aber kontrapunktisches Komponieren nicht das Setzen von Note gegen Note, sondern von Linie gegen Linie ist, wie soll dann der Eindruck kontrapunktischer Aktion entstehen, wenn der Dirigent der Linie, der Phrase, der Melodie so offenbar wenig Aufmerksamkeit schenkt wie hier?
Der Ansatz hat sich von der frühen zur späten Aufnahme nicht geändert, doch das enorm langsame Tempo der letzteren lässt die Schwächen noch um ein vielfaches vergrößert erscheinen, wie unter einer Lupe. Gielen war laut Begleittext im Alter der Ansicht, er und andere Dirigenten hätten die Symphonie früher zu rasch dirigiert. Seine Aufnahmen zeigen, dass es sich bei der Frage „schnell oder langsam?“ letztlich um ein Problem nachgeordneten Ranges handelt.
Norbert Florian Schuck [06.09.2019]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Gustav Mahler | ||
1 | Sinfonie Nr. 6 a-Moll (Tragische) | 02:52:51 |
Interpreten der Einspielung
- SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg (Orchester)
- Michael Gielen (Dirigent)