Amen Hayr Surb
Armenian Sacred Music • Johann Sebastian Bach
Kaleidos KAL 6340-2
1 CD • 64min • 2017
25.07.2018
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Die Violinistin Lilit Tonoyan hat ihren Lebens- und Wirkungsmittelpunkt in Köln gefunden. Vor allem, seit sie im Jahre 2007 ihre armenische Heimat verließ, ist sie in der lebendigen Musikszene Kölns auf ihrem Instrument zwischen musikalischen Zeitaltern und Weltkulturen unterwegs – nicht nur in einem von ihr selbst gegründeten Cologne World Jazz Ensembles, aber sie steht auch – etwa durch Mitwirkung im Ensemble Musikfabrik, der Neuen Musik aufgeschlossen gegenüber. Wenn es um ihre „persönlichsten“ musikalischen Themen geht, dann steht jedoch eine tiefe Spiritualität an oberster Stelle. In dieser Hinsicht forscht sie nach Schnittstellen zwischen der abendländischen Musikkultur und dem reichen musikalischen Erbe der vorderasiatischen Heimat. Wie verträgt sich die barocke Mehrstimmigkeit eines Johann Sebastian Bach mit der archaischeren, zugleich viel weitere meditative Bögen spannenden, sich über Hexachrode definierende Melodik in den alten liturgischen Gesängen ihres Heimatlandes?
Lilit Tonoyan und der Cellist Davit Melkonyan, ein Landsmann von ihr, haben für diese CD gemeinsam das musikalische Abenteuer gewagt, um diese Frage zu beantworten. Der Titel „Amen Hayr Surb“ zitiert einen Gebetsruf der armenischen Liturgie. In den 23 Stücken dieser neuen Aufnahme verweben sich in einer reichen Empfindungspalette vielgestaltige rote Fäden zu einem dialogisierenden Wechselspiel zwischen den Melodien der alten liturgischen Gesänge des armenischen Christentums zwischen dem 5. bis 15. Jahrhundert und der viel „moderneren“ Musik eines Johann Sebastian Bachs.
Zunächst mal verlangt ein solches Unterfangen eine große Einfühlungsgabe gepaart mit unbestechlichem instrumentalen Potenzial – und das kann den beiden Interpreten dieser Aufnahme ohne weiteres zugestanden werden. Lilit Tonoyans Violinspiel verströmt in jedem Moment viel Aussagekraft. Ihr wanderlbarer Geigenton berührt tief und strahlt selbstbewusst in die Weite des Raumes hinein. Sie weiß, wenn nötig und mit hohem intuitiven Gespür die Prägungen des „klassischen Abendlandes“ hinter sich zu lassen – vor allem, wenn sie die imaginären Gesänge der armenischen Melodien vibratoarm und mit direkter Geste aus sich selber heraus sprechen lässt.
Sehr einfühlsam übertragen Lilit Tonoyan und David Melkonyan die ursprünglich textgebundenen Inhalte in eine instrumentale und dadurch unmittelbar verständliche Spiritualität. Getragen, fragil, aber auch feierlich erhaben und manchmal auch leidenschaftlich drängend wirkt dieses Spiel.
Eine ausgefeilte Arrangierkunst in dieser Duobesetzung tut ihr übriges, um das Prinzip einer grundsätzlichen Einstimmigkeit in dieser vorderasiatischen Musikkultur zu relativieren. Da legt Davit Melkonyans Cello stationäre Borduntöne über die bebenden Melodien, was spannende harmonische Bezüge assoziieren lässt. Phasenweise mischt sich das Cello mit ausgedehnten imitatorischen Parts in den Gesang der Violine ein. Wie eine Heimkehr in die vertrauten Gefilde wirken jedes Mal die Wechsel zur Tonsprache eines Johann Sebastian Bachs. Hier ist viel mehr Dur und Moll im Spiel, aber man hört jetzt mit offeneren Ohren hin, begreift zugleich diese europäische Tonsprache nicht mehr als alleiniger Mittelpunkt der Musik. Das lädt ein zur Reflexion über Gemeinsamkeiten im Dienste einer verbindenden Sache zwischen verschiedenen Kulturen und ihrer reichen Geschichte. Gerade die armenische Nation hat im 20. Jahrhundert viele Unterdrückungen erleiden müssen – sei es durch die Türkei und später durch die Sowjet-Diktatur. Ein großes Verdienst kommt hier dem armenischen Priester, Musikethnologen, Komponisten Komitas Vardapet zu, der dieses Repertoire in großen Feldforschungen zusammentrug. Lilit Tonoyan und Davit Melkonyan machen sich in unserer Zeit als Botschafter von Integration und Toleranz verdient. Am symbolträchtigsten kommt dies auf Stück Nr. 22 dieser CD zum Ausdruck:
Strahlend lebendig blitzt das Thema von Bachs Präludium aus der E-Dur-Partita auf. Lebendige Arpeggien treiben nach vorn, eine tiefe Linie des Cellos als Antwort nach sich ziehend. Und dann zitiert, nein integriert diese neue Interpretation das vorausgegangene armenische Lied zur weihnachtlichen Liturgie – was wohl selten in der Musikgeschichte so selbstverständlich und plausibel wirkte.
Stefan Pieper [25.07.2018]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Traditional | ||
1 | Sirt im sasani (Mein Herz erzittert, Gründonnerstagshymnus) | 00:02:01 |
Soghomon Soghomonian Komitas | ||
2 | Ter voghormea (Herr, erbarme dich, Aus der Heiligen Liturgie) | 00:05:51 |
Traditional | ||
3 | Vor nshanav amenahaght (Siegreiches Kreuz, Scharakan zumFest des heiligen Kreuzes von Varak) | 00:03:05 |
Johann Sebastian Bach | ||
4 | Invention Nr. 11 g-Moll BWV 782 | 00:01:48 |
Traditional | ||
5 | Zorutyun surb Khachi (Die Kraft des Heiligen Kreuzes, Scharakan zumFest der Kreuzerhöhung) | 00:03:47 |
6 | Nayeac sirov (Schau liebevoll, barmherziger Vater, Scharakan zum Friedensgottesdienst) | 00:03:58 |
7 | Ov Zarmanali (Welch wundersames Mysterium, Canto während der Segnung des Wassers in der weihnachtlichen Liturgie) | 00:04:07 |
Johann Sebastian Bach | ||
8 | Partita No. 2 d minor BWV 1004 for Violin solo | 00:04:22 |
9 | Invention Nr. 4 d-Moll BWV 775 | 00:00:54 |
Makar Yekmalyan | ||
10 | Miayn Surb (Einzig Heilig, Aus der Heiligen Liturgie) | 00:01:48 |
Traditional | ||
11 | The bird, the bird awoke (Der Vogel, der Vogel erwachte, Canto of the Resurrection) | 00:04:14 |
Makar Yekmalyan | ||
12 | Amen Hayr Surb (Amen Heiliger Vater, Aus der Heiligen Liturgie) | 00:03:41 |
Johann Sebastian Bach | ||
13 | Invention Nr. 13 a-Moll BWV 784 | 00:01:35 |
14 | Sonate No. 3 C major BWV 1005 for Violin solo | 00:03:13 |
Soghomon Soghomonian Komitas | ||
15 | Hamenayni Nr. 1 (Von allen bist du gesegnet, Herr, Aus Patarag, Liturgie) | 00:00:46 |
Traditional | ||
16 | The bird, the bird awoke (Der Vogel, der Vogel erwachte, Canto of the Resurrection) | 00:02:56 |
Soghomon Soghomonian Komitas | ||
17 | Hamenayni Nr. 2 (Von allen bist du gesegnet, Herr, Aus Patarag, Liturgie) | 00:00:50 |
Traditional | ||
18 | Sirt im sasani (Mein Herz erzittert, Gründonnerstagshymnus) | 00:03:54 |
Johann Sebastian Bach | ||
19 | Invention Nr. 14 B-Dur BWV 785 | 00:01:27 |
Soghomon Soghomonian Komitas | ||
20 | Avetis tsnndyan (Frohe Botschaft der Geburt Jesu, Weihnachtslied) | 00:00:32 |
Traditional | ||
21 | Aysor dzaynn Hayrakan (Heute die Stimme des Vaters, Canto während der Segnung des Wassers in der weihnachtlichen Liturgie) | 00:02:03 |
Johann Sebastian Bach | ||
22 | Partita No. 3 E major BWV 1006 for Violin solo | 00:03:41 |
Traditional | ||
23 | Orhnutyun eric mankanc (Die Segnung der drei Knaben, Scharakan aus dem armenischen Horologion) | 00:03:09 |
Interpreten der Einspielung
- Lilit Tonoyan (Violine)
- Davit Melkonyan (Violoncello)