Orgeltanz
Motette Ursina MOT 13931
1 CD • 77min • 2012
28.04.2014
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
In der Schauspielkunst nennt man es eine „Gegenbesetzung“, wenn ein Mime eine Rolle spielt, die seinem Typ eigentlich ganz zuwiderläuft. Dieses aufregende Rezital der Organistin Iris Rieg nimmt so eine Gegenbesetzung auf musikalische Weise vor: Sie stellt die Orgel als ein Instrument zum Tanz vor. Genau aus dem Umstand, dass die Orgel als ein traditionell genuin dienendes Kircheninstrument von seiner Funktionalität befreit wird, bezieht dieses Album „Orgeltanz“ seine mitreißende Spannung. Doch Rieg hat dieses französisch dominierte Programm nicht nur selbst konzipiert, aufwendig vorbereitet und äußerst sorgfältig produziert; tatsächlich glückt es ihr, die große Klaisorgel der Trinitatiskirche zu Köln zum Zucken und zum Schweben zu bringen.
Denn Iris Rieg agiert mit einer Energie, dass über den Kirchenraum und die naturgemäße Distanziertheit der Orgel hinweg die Körperlichkeit dieser Musik faßbar wird. Im „Impromptu“ aus Viernes Pièces de Fantaisies (3. Suite) sprudeln die Sechzehntelketten mit überlegener Geläufigkeit und das Pedal gibt lässige Impulse: Die Orgel hebt hier ähnlich schwerelos ab wie in den Spukgesichten der Biblischen Tänze Petr Ebens oder den beiden virtuosen Skizzen Marcel Duprés op. 40, die einen unwiderstehlich gewitzten Eindruck hinterlassen, doch mit unzähligen technischen Fallstricken ausgelegt sind. In den nicht publizierten persönlichen Anmerkungen zu diesem Programm schreibt Rieg denn auch, daß sie diese höchst heiklen Stücke mittlerweile nicht so gern im Konzert darbietet, weil sie „zu riskant sind, peilt man Fehlerlosigkeit an“: Hier jedoch sind sie makellos gelungen. Die einleitenden Variationen Sweelincks über Unter den Linden grüne nehmen sich in dem romantisch-modernen Programm zwar wie ein frühbarocker Fremdkörper aus, doch sie demonstrieren auch, dass die Entdeckung tänzerischer Bewegung für die Orgel nicht ausschließlich eine Erfindung der Moderne ist.
Der zweite thematisch wirkende rote Faden dieses Programms ist die reizvolle Herausforderung, ein fast durchgehend französisches Repertoire auf das deutsche Instrument, die Kölner Klaisorgel von 1987, zu übertragen. Wie versiert, ja streckenweise ausgefuchst Iris Rieg hier vorgeht, beweisen etwa die einzige, bruchlose und in dieser formalen Konsequenz fesselnde Steigerungskurve in Duprés Cortège et Litanie op. 19/2, aber auch die präzise hingetupften Farben in Widors Andante aus der Symphonie Gothique. Diese eher beschaulichen Werke stiften in dieser spannungsvollen Kompilation wertvolle Ruhepunkte. Atemberaubend ist dagegen der Effektreichtum, mit dem Iris Rieg die von Duruflé aufgezeichnete Choralimprovisation Charles Tournemires über Victimae Paschali mit wahrlich improvisatorischer Freiheit und großer Geste förmlich in den Raum hineinwirft.
Das Zentrum dieses Programms sind die Trois Danses des jung gefallenen Jehan Alain (1911 – 1940), für den Iris Rieg besondere Sympathien hegt. Allein dieses Spitzenwerk, das eigentlich aus veritablen Symphonischen Tänze gebildet wird, lohnt das genaue und wiederholte Hören dieses „Orgeltanz“-Albums: Auch in den eher starren und nur allmählich gelockerten Bewegungen des ersten Tanzes „Joies“ oder den hypnotischen Vergrabungen des langsamen zweiten Tanzes „Deuils“ teilt sich die ansteckende Körperlichkeit dieser Musik – und nicht zuletzt des Spiels von Iris Rieg mit. Sie bringt das monumentale Kölner Instrument tatsächlich zum Tanzen: Angesichts solcher Dompteuse-Leistungen wird eine Empfehlung fällig.
Prof. Michael B. Weiß [28.04.2014]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Jan Pieterszoon Sweelinck | ||
1 | Unter der Linden Grüne (Vier Variationen) | 00:06:28 |
Louis Vierne | ||
2 | Impromptu op. 54 (from: Pièces des Fantaisie op. 054) | 00:03:08 |
Marcel Dupré | ||
3 | Cortège et litanies op. 19 | 00:06:18 |
Charles-Marie Widor | ||
4 | Sinfonie Nr. 9 c-Moll op. 70 für Orgel (Symphonie Gothique) | 00:05:44 |
Charles Tournemire | ||
5 | Victimae paschali (Choral-Improvisation) | 00:08:35 |
Marcel Dupré | ||
7 | Esquisse b-Moll op. 41 Nr. 2 | 00:04:40 |
Jehan Alain | ||
8 | Joies | 00:07:09 |
9 | Deuils | 00:12:35 |
10 | Luttes | 00:04:13 |
Petr Eben | ||
11 | Tanz von Jephtas Tochter (aus Vier Biblische Tänze) | 00:08:58 |
12 | Die Hochzeit zu Kana | 00:06:20 |
Interpreten der Einspielung
- Iris Rieg (Orgel)