cpo 777 121-2
3 CD • 2h 45min • 2009
22.05.2013
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Bei uns ist Ottorino Respighi, der Schöpfer der sinfonischen Rom-Trilogie, als Opernkomponist unbekannt, aber auch in seiner Heimat werden seine durchaus bühnenwirksamen Stücke „Belfagor“, „La campana sommersa“ („Die versunkene Glocke“, nach Gerhart Hauptmann) und „La fiamma“ nur gelegentlich gespielt. Es war also eine Großtat der Deutschen Oper Berlin, die sich unter der Intendanz von Kirsten Harms auch um abgelegenes italienisches Repertoire kümmerte, sein zu Lebzeiten nie gespieltes Frühwerk „Marie Victoire“ in einer sorgfältig gearbeiteten Produktion erstmals auf die deutsche Bühne zu bringen. Die Oper geht auf ein gleichnamiges Pariser Erfolgsstück von Edmond Guiraud (1911) zurück, ein Historiendrama aus der Zeit der französischen Revolution, das auch Elemente des Schauer- und des Rührstücks enthält. Der Verleger Edoardo Sonzogno, der dem jungen Respighi dieses Sujet geradezu aufzwang, hoffte damit an den Erfolg von Giordanos «Andrea Chenier» anzuknüpfen. Da wie dort geht es um ein privates Schicksal inmitten blutiger Umwälzungen. Guirauds Handlung beginnt im Revolutionsjahr 1793. Maurice und Marie de Lanjalllay, in Liebe und Treue verbunden, werden aus ihrer trügerischen Idylle vertrieben und auseinandergerissen. Ein Jahr später gibt Marie im Gefängnis in der Nacht vor ihrer bevorstehenden Hinrichtung dem Drängen des Hausfreundes Corlivière nach, was sie bitter bereut, als sie kurz darauf von ihrer Begnadigung erfährt. Noch sechs Jahre später, nun erfolgreiche Hutmacherin und Mutter eines unehelichen Kindes, macht sie sich wegen dieser Schwäche die bittersten Vorwürfe, als plötzlich der totgeglaubte Ehemann zurückkehrt. Das sich anbahnende Familiendrama wird überschattet von einem mißglückten Attentat auf Napoleon, für das Corlivière verantwortlich ist, das aber Maurice auf sich nimmt. Das Happy End wird nur möglich durch den spektakulären Freitod Corlivières im Gerichtssaal, mit dem das Stück abschließt. Da steckt eine Menge Kolportage drin, aber kein Zweifel: das ist ein Stoff, aus dem man große Oper oder großes Kintopp macht. Der Autor selbst erklärte sich bereit, sein Stück zu einem Libretto umzuformen. Daß die französische Sprache beibehalten wurde, war relativ ungewöhnlich für eine Oper, die in Italien herauskommen sollte. Zu einer Aufführung kam es dann aber gar nicht, ob aufgrund politischer oder persönlicher Intrigen, ist nicht mehr feststellbar. Nach dem 1. Weltkrieg, auf dem Wege zu neuen musikalischen Ufern, interessierte sich der Komponist offenbar selbst nicht mehr für das Stück, das erst 2004 in Rom seine verspätete Uraufführung erlebte. Schon ein oberflächlicher Vergleich mit «Andrea Chenier» macht einen wesentlichen Unterschied deutlich. Während es Giordano und seinem Librettisten Illica um dramatische Zuspitzung ging, geht Guiraud eher episch vor. Er breitet bedächtig ein sich über mehrere Jahre hinziehendes historisches Panorama aus, in dem viele Handlungen parallel und gegeneinander laufen. Eine solche Textvorlage verlangt nach einem ruhigen Erzählfluß auch in der musikalischen Ausgestaltung. Ein Meister der Kantilene wie Puccini oder Giordano war Respighi nicht. Auch da, wo die großen Gefühle angesagt sind, wagt er sich über ein emotional aufgeladenes Parlando kaum hinaus. Maries Monologe etwa berühren durchaus, da die Musik immer eng am Text bleibt, aber sie prägen sich auch nach mehrmaligem Hören nicht ein. Die Melodie, und das entspricht eher der spätromantischen deutschen Tradition, liegt beim Orchester. Respighi, der ein erklärter Verehrer von Richard Strauss war, bekommt das komplexe, mitunter weitschweifige Libretto erst einmal auf symphonischem Wege in den Griff. Das seit Mascagnis «Cavalleria rusticana» in der veristischen Oper obligatorische Intermezzo sinfonico weitet er im 2. Akt zu einer sinfonischen Dichtung aus, in der äußere und innere Handlung, der Sturz Robespierres und die Todeserwartung der Verurteilten, aufeinander stoßen. Nicht erst hier arbeitet Respighi mit den Mitteln der musikalischen Collage. Dabei geht er weit über Giordano hinaus, der diese Technik nicht nur in «Andrea Chenier», sondern später auch in «Fedora» und «Siberia» mit Geschick anwandte. Die musikalischen Zitate aus dem Ancien Régime und der Revolutionszeit, Schäferspiel und Carmagnole, werden hier nicht in den Musikstil des Fin-de-siècle eingebettet, sondern stehen schroff nebeneinander, gegeneinander, übereinander. In der Berliner Produktion, deren Mitschnitt nun bei cpo vorliegt, hatte Respighi in dem Dirigenten Michail Jurowski einen eloquenten Anwalt gefunden. Mit dem gut disponierten Orchester der Deutschen Oper macht er die Komplexität der Partitur erfahrbar. Wir erleben ein musikalisches Breitwandgemälde mit zahllosen liebevoll ausgepinselten Details. Auch die Sänger überzeugen. Takesha Meshé Kizart vermeidet als Marie äußerliche Diven-Allüren und gefällt mit warmem lyrischem Ton und feiner Phrasierung. Neben ihr gibt Markus Brück als Maurice mit seinem gesunden, expansionsfähigen Bariton eine weitere Probe seines vielseitigen Talents. Der junge Spanier Germán Villar läßt in der undankbaren Rolle des Corlivière einen angenehmen, schlanken und noch entwicklungsfähigen Tenor hören. Die übrigen Rollen sind durchweg prägnant besetzt.
Ekkehard Pluta [22.05.2013]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Ottorino Respighi | ||
1 | Marie Victoire (Oper in vier Akten und fünf Bildern) |
Interpreten der Einspielung
- Takesha Meshé Kizart (Marie de Lanjallay - Sopran)
- Markus Brück (Maurice de Lanjallay - Bariton)
- German Villar (Clorivière - Tenor)
- Simon Pauly (Simon - Bariton)
- Stephen Bronk (Cloteau - Bassbariton)
- Jörn Schümann (Kermarec - Bassbariton)
- Chor der Deutschen Oper Berlin (Chor)
- Orchester der Deutschen Oper Berlin (Orchester)
- Michail Jurowski (Dirigent)