Ondine ODE 1178-2
1 CD • 71min • 2011
13.03.2012
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Während der vergangenen Jahre landeten mit schöner Regelmäßigkeit neue sinfonische und kammermusikalische Werke von Einojuhani Rautavaara auf meinem Tisch. Und mit derselben Regelmäßigkeit entstand vor dem innern Auge das Bild von einem archaischen Heroen, der sich aus einem Kerker zu befreien versucht, in den ihn seine übertriebene Neugierde hineinbefördert hatte. Der zwar begreifliche, am Ende aber doch verhängnisvolle Kontakt mit den Errungenschaften des seriellen Arbeitens konnte gerade bei einer schöpferischen Potenz wie der seinigen nur unbekömmlich sein: Was anderen, minderen Begabungen als eine hilfreiche Krücke auf dem Wege zu größten Texturen, Partituren und Einnahmen diente, mußte auf die Urgewalt Rautavaara wie eine jener berüchtigten weißen Jacken wirken, deren Ärmel man auf dem Rücken zuknöpft.
Aber vielleicht war's ja eine notwendige Phase für seine Art der musikalischen Geschichtsschreibung, die uns von der Bartók-Nähe seiner Fiedelspieler op. 1 für Klavier über die Prokofieff-Gebärden der ersten Sinfonie und den reihentechnischen Abschied von der Romantik der dritten Sinfonie mit ihrem notorischen Bruckner-Hornruf bis zu den geradezu hemmungslosen Bekenntnissen eines Erzmelodikers und Schwelgers führt: So nähern sich Kometen kosmischen Gravitationspunkten und so rammt sich Geist in Materie, bevor er mit neuem Schwung in die Fernen des Universums entschwindet. Denen, die hinterdrein schauen (ohne dass sie das Nachsehen hätten), bleiben die Klangbilder des Besuchers, der genügend Eindrücke gesammelt haben dürfte, um sich für geraume Zeit auf seiner weiteren Bahn daran zu vergnügen.
Das mag alles ein wenig pathetisch klingen, doch wenn sich derselbe Eindruck jedes Mal ungefragt erneuert; wenn man sich unaufgefordert durch alle bis dahin gesammelten „Materialien" hindurchhört, um sich gründlicher in ganz spezifische musikalische Welten hineinzubegeben – dann muss das leicht stellare Bild zumindest einige Realität enthalten. Warum hätte denn Rautavaara während der letzten Jahre so viele Werke im eigentlichen Sinne des Worte „revidiert"? Hat er da nicht bereits aus der Ferne auf Schöpfungen geschaut, die zum Teil ein halbes Jahrhundert alt sind?
Nicht immer war das Resultat so glücklich wie bei dem Zyklus Vor den Ikonen, der sich als faszinierende Orchesterkomposition mit den frühen Ikonen für Klavier op. 6 auseinandersetzt. Und nicht immer wird man nähere Erläuterungen der konkreten Eingriffe verstehen können, warum eine Bearbeitung als nötig empfunden wurde. Gerade in Fällen, wie ihn jetzt die Modificata für Orchester aus dem Jahre 1957 präsentiert, will der Kopf des Zuhörers in automatische Schüttelbewegungen verfallen: Dieses Stück sei, so erfahren wir (nur auf Englisch und Finnisch), die erste Zwölfton-Arbeit Rautavaaras gewesen, und ihr habe er direkt seine Praevariata, folgen lassen, in der nun alle Parameter seriell geordnet wurden. Warum Rautavaara aber die letztgenannte Tüftelei im Jahre 2003 zum ersten Satz der Modificata bestimmte und ob womöglich etwas von der saftigen, vollmundigen Instrumentation, die selbst diesen klingenden Rechenaufgaben einen nicht unsympathischen Anstrich gibt, die Folge einer nachträglichen Kurskorrektur war – das verrät uns keiner.
Ich will freilich nicht bestreiten, dass die Positionierung dieses frühen Stückes zwischen den beiden konzertanten Werken der Jahre 2008 und 2009 etwas für sich hat: Der „materialistische" Bezugspunkt fungiert gewissermaßen als Fernrohr, von dem aus wir die weite Reise unseres Kometen wirklich ab-, ein- und wertschätzen können. Dogmatiker seien indessen vor dem Blick durch die Linse gewarnt, denn ihnen droht existentielle Gefahr angesichts der durchhörbaren Strukturen, der nachvollziehbaren Entwicklungen und der Melodienseligkeit, die nicht einmal vor regelrechten „Ohrwürmern" halt macht. Die „Refrains" sowohl des zweiten Cellokonzerts als auch des Schlagzeugkonzerts sind derart einprägsam, dass ich sie – kein Jux! – tagelang mit mir herumschleppte und mir am Ende nur einfiel, als homöpathische Gegenmittel die siebte und achte Sinfonie, das Buch der Visionen (ODE 1064-5) und vor allem die Box mit den 12 Konzerten (4CD ODE 1156-2Q) einzunehmen, die mit dem ersten Cellokonzert (1968) beginnt und sämtliche konzertanten Werke enthält, die vor den beiden hier eingespielten Stücken entstanden sind: Durchweg irrwitzig idiomatische Musik, phänomenal virtuos wie die drei Klavierkonzerte, hinreißend romantisch und doch nie kitschig im Cantus arcticus für Vogelstimmen und Orchester, fast jazzig für die Klarinette ...
Den Solisten Colin Currie beziehungsweise Truls Mørk auf den Leib geschneidert sind auch die beiden neuen Sachen, wobei die Incantations natürlich unter demselben kleinen Manko zu leiden haben wie alle Schlagzeugkonzerte. Die Fülle der aufgefahrenen Gerätschaften von Marimba und Vibraphon bis hin zu Trömmelchen und Zischdeckeln verführt zu einer etwas willkürlich anmutenden Betätigung derselben, die sich im Verlaufe des aktuellen Werkes jedoch zum Glück aufs Wesentliche vermindert. Die vornehmlich auf die Mallets abgestellten Abschnitte sind denn auch bezwingend. Der langsame, vibraphon-beherrschte Mittelsatz verträumt sich in unendlicher Schönheit, und das breite, ganz besonders „riskante" Refrainthema sorgt schließlich doch für ein geordnetes Klöppeln. Ich wäre nicht überrascht, wenn aus dem Stoff am Ende noch ein viertes Klavierkonzert würde.
Mein Favorit ist denn auch das Cellokonzert für Truls Mørk, der das ihm gewidmete Werk mit dem ganzen Elan angeht, den wir von ihm auf klassischem und klassisch-modernem Gebiet kennen. Bis in den ewigen Schnee seines Violinregisters hinauf glüht er mit dieser Musik, in der – ich sag's gern noch einmal – thematische Entwicklungen nicht gesucht werden müssen, weil sie teils sofort zu vernehmen, teils nach und nach aus den subtilen Motiv-Verarbeitungen zu erkennen sind: So erwarten wir's von einem Kunstwerk, das wir nicht bloß mit einem jovialen „interessant" goutieren und anschließend nie wieder anpacken werden. Towards the horizon, dem Horizont entgegen wollte Einojuhani Rautavaara mit diesem grandiosen Stück, und das ist er wohl auch: Staunend betrachten wir die Flugbahn eines Künstlers, der hier nicht in Schönheit unter-, sondern mit prächtigen Aussichten aufgeht.
Rasmus van Rijn [13.03.2012]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Einojuhani Rautavaara | ||
1 | Konzert Nr. 2 für Violoncello und Orchester (Towards the Horizon) | 00:21:16 |
4 | Modificata | 00:17:15 |
7 | Percussion Concerto (Incantations) | 00:23:44 |
Interpreten der Einspielung
- Truls Mørk (Violoncello)
- Colin Currie (Schlagzeug)
- Helsinki Philharmonic Orchestra (Orchester)
- John Størgårds (Dirigent)