Tudor 7162
2 CD/SACD stereo/surround • 83min • 2008
20.10.2009
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Wenn einem die gute Klassikfee binnen weniger Wochen gleich zwei vorzügliche Einspielungen eines großen Werkes beschert, dann hat das vermutlich etwas zu bedeuten. Doch da sie einem ihre wahren Absichten üblicherweise nicht verrät, bringt sie einen lediglich ins Grübeln: Vielleicht sollen ja nur die Zuverlässigkeit meines Kurzzeitgedächtnisses und meine Glaubwürdigkeit als Rezensent überprüft werden? Oder sollte die Repertoiredoublette eine zwar versteckte, gleichwohl aber höchst willkommene Gelegenheit sein, sich nach längerer Zeit wieder einmal gründlicher in das Universum des überaus geschätzten Komponisten zu versenken? Oder ist die nämliche Fee am Ende gar keine gute, sondern eine böse, der es ein sadistisches Vergnügen bereitet, mich zum eingebildeten Punkterichter über zwei untadelige Künstler zu erheben und dabei zuzusehen, wie ich die beiden in tyrannischem Dünkel aufeinanderhetze?
Ich habe mich für die zweite Variante entschieden und die vorliegende Einspielung erst einmal zu einer gründlicheren Auseinandersetzung mit Gustav Mahler genutzt. Dann wurde mir während der Vorbereitung dieses Textes allerdings ein Interview zugespielt, in dem sich Jonathan Nott – eben für seine Interpretation der neunten Sinfonie mit dem Toblacher Schallplattenpreis ausgezeichnet – über das Werk, den Komponisten und die Landschaften äußert, in der dieses opus ultimum ersonnen ward. Da lag es denn doch nahe, den Dirigenten auch an seinen eigenen Worten zu messen, anstatt bloß das klingende Geschehen wirken zu lassen, weil nämlich die Behauptung, man müsse nicht „die Dritte, Sechste, Siebte verstanden haben”, um sich an die Neunte zu wagen, doch einen gewissen Widerspruch provoziert: Man wird sie nicht dirigiert haben müssen, doch man sollte sie sich wegen der unendlich vielen motivischen Bezüge und der großen Verlaufskurve des gesamten Schaffens zumindest insofern anverwandelt haben, als daß man die direktesten Verbindungselemente kennt.
Bei näherer Betrachtung finde ich immer deutlichere Diskrepanzen zwischen dem Gesagten und dem Gespielten. Darum entscheide ich mich, die Worte aus dem Protokoll zu streichen, und Jonathan Nott lieber nur mit seinen klingenden Resultaten sprechen zu lassen. Dabei zeigt sich wieder einmal, daß dieser Dirigent seine Aufgaben anscheinend eher instinktiv angeht und vermutlich noch im Laufe der Proben und Aufführungen – wie’s Mahler ja auch getan hat – bis zur endgültigen Version gelangt, anstatt gleich mit einem fertigen Konzept in den Saal zu kommen. Das hat den Vorzug der heilsamen Spontaneität (was kann man nicht alles in Grund und Boden denken, bevor auch nur ein Ton gespielt wurde?), birgt aber freilich auch eine Gefahr: Wer, wie Jonathan Nott, immer „bewußt nur gerade das gemacht” hat, was im Konzert oder Studio anstand, der verkennt leicht den für Gustav Mahlers Musik immens wichtigen Aspekt der Anspielung und des Zitats, verfehlt die gerade in der neunten Symphonie kunstvoller als in allen früheren Geschwistern verborgenen Zeichen, aus denen sich beileibe keine nihilistische Aussichtslosigkeit herauslesen läßt. Allein das durchs Adagio geisternde Urlicht und das seit der vierten Sinfonie dem Himmel so nahe „ewig” lassen mich an der totalen Verzweiflung zweifeln. Gewiß resigniert Mahler am Ende (und Nott stellt diesen Umschwung, der sich auf den letzten zwei Partiturseiten vollzieht, sehr bezwingend dar), gewiß gibt es zwischen trotzigem Aufbegehren und wütendem, täppischem Getrampel immer wieder Momente, wo er die Flinte ins Korn werfen will. Und doch legt in tröstender Zuversicht das Sekundmotiv seine beschwichtigende Hand über alles Entsetzen – dasselbe Motiv, das erst vor kurzem noch die unendliche Schönheit der Erde besungen hatte ...
Das ist einer der wesentlichsten Gründe, weshalb ich der unlängst besprochenen Einspielung der Stockholmer Philharmoniker unter Alan Gilbert den Vorzug gebe. Wobei das, wie ich unterstreichen möchte, ein ganz besonders subjektives Urteil ist. Auch Jonathan Nott verzichtet auf alle Rühr- und Tränenseligkeiten, läßt den vielbeschworenen „Schmied Schmerz“ eher als Feinmechaniker auftreten. Auch er scheint zu wissen, daß echte Größe sich nicht an der menschlichen Leidensfähigkeit bemißt. Und deshalb gelingt ihm auch eine Interpretation, die ihren Preis bestimmt verdient hat. Doch die schärferen Konturen, die härteren Schatten und tieferen Reliefs der Stockholmer Produktion erreichen mich viel direkter, weil die Probleme des Privatmannes Gustav Mahler gerade in einer Zeit, in der Krethi & Plethi ihren Müll über die Medien bei uns abkippen können, ohne Frage weniger relevant sind als das, was er uns als Komponist zu sagen hatte. Daß es nämlich Welten gibt, für die es sich trotz aller Banalitäten des Alltags zu leben und in denen es zu wirken lohnt. Und daß man das, was einen vordergründig peinigt, nicht unbedingt durchpflügen muß wie eine Höllenglut, sondern es hinter sich lassen kann wie eine schlecht verdaute Speise. Da klingt einem dann plötzlich das Ewigkeitsmotiv ...!
Rasmus van Rijn [20.10.2009]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Gustav Mahler | ||
1 | Sinfonie Nr. 9 D-Dur |
Interpreten der Einspielung
- Bamberger Symphoniker - Bayerische Staatsphilharmonie (Orchester)
- Jonathan Nott (Dirigent)