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Besprechung CD

Carlo Maria Giulini

Bruckner

SWRmusic 93.186

1 CD • 62min • 1996

05.10.2006

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 8
Klangqualität:
Klangqualität: 6
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 7

Vom musikalischen Gesichtspunkt her ist es erfreulich, daß Hänssler Classics diesen Live-Mitschnitt nun erneut vorgelegt hat: Carlo Maria Giulini, der 1998 seine Dirigierkarriere beendete und 2005 starb, hat hier eine seiner letzten Aufführungen von Bruckners Neunter mit viel Herzblut dirigiert. Mit seiner Aufnahme des gleichen Werks für EMI aus dem Jahr 1974 mit dem Chicago Symphony Orchestra hatte er bereits Schallplattengeschichte geschrieben; der spätere Live-Mitschnitt mit den Wiener Philharmonikern (DG 427 345 2) aus dem Jahr 1988 war nicht so überzeugend, nicht zuletzt wegen der weihevoll geratenen Tempi, die bei gut sieben Minuten längerer Spieldauer zulasten der Innenspannung gingen. Anders bei dieser Aufführung aus der Stuttgarter Liederhalle vom 20. September 1996, die bereits 1997 auf dem hauseigenen Label des damals noch SDR genannten Senders erschienen war (CD MAS 375). Hier fand Giulini zurück zu den flüssigeren Tempi, die ungefähr mit denen der Chicago-Aufnahme übereinstimmen. Allerdings verleitet die Existenz beider Stuttgarter Auflagen nun auch zum direkten Vergleich; dabei schneidet die zehn Jahre ältere kurioserweise in vieler Hinsicht besser ab. Beim Re-Mastering hat man die Aufnahme zwar entstört (gelegentliches Hintergrundpfeifen der 1997er Version vermißt man natürlich nicht wirklich), aber meinem Höreindruck nach auch leicht entrauscht, an den Pegeln manipuliert und vor allem eine kleine Portion Hall hinzugegeben. Dadurch wirken insbesondere die Celli und Bässe sowie die Blechbläser weniger trennscharf, die Streicher nicht so körnig, und so verliert die Produktion als ganzes ein wenig an Timbre. Die abweichenden Zeitangaben beider Tonträger kommen daher, daß die Hänssler-Produktion auch die Stummzeiten zwischen den Sätzen einrechnet (reale Musik der einzelnen Sätze wie 1996 veröffentlicht: 25’42, 10’32 und 25’05).

Ein Ärgernis ist die Entscheidung, am Ende des Adagios eine halbe Minute Applaus beizugeben, den man gerade nach diesem Werk nicht hören möchte (1997 fehlte er noch). Auch wartete die Produktion 1997 mit einem opulenten, neunseitigen Booklet-Text von Barbara Zuber auf; Sigfried Schibli hingegen mußte sich für die Neuauflage mit zwei Seiten zufrieden geben und konnte insbesondere auf die problematische Rezeptionsgeschichte des Werkes kaum eingehen, welche mit einem veritablen Etikettenschwindel begann: Der Dirigent der Uraufführung 1903, Ferdinand Löwe, hatte das Werk massiv uminstrumentiert und mit verfälschenden Tempo-Angaben versehen; diese eigene Bearbeitung veröffentlichte er noch im gleichen Jahr als Original Bruckners, ohne auf seine Eingriffe überhaupt hinzuweisen. Bis zum ersten Erscheinen des Werkes in der Bruckner-Gesamtausgabe im Jahr 1934 konnte sich dreißig Jahre lang eine verfälschende Interpretations-Kultur entwickeln, die leider bis heute weitergepflegt und auch in dieser Aufführung hörbar wird. Dazu gehört insbesondere die Einschaltung langsamerer Tempi für das zweite Thema im Trio des Scherzos nach dem Erstdruck (hier: Tr. 2, erstmals bei ca. 4’28 und spätere Parallelstellen), die von Löwe vorgenommene Unterdrückung der ausgezählten Pausentakte beim Übergang vom Scherzo ins Trio (Tr. 2, 3’58, hier mindestens 2 Sekunden zu kurz; dies ist ein besonderes Verbrechen gegenüber dem Text, weil Bruckner diese Leertakte durch Einziehen zusätzlicher Taktstriche im Manuskript im Nachhinein einfügte und dadurch sicherstellen wollte, daß die Tempo-Relation gewahrt bleibt, nämlich Achtel=Achtel, bzw. zwei Scherzo-Takte = vier Trio-Takte –), sowie die zahlreichen, larmoyanten Tempoverschiebungen im Adagio: Insbesondere machte Löwe aus Bruckners anfänglichem "Langsam, feierlich" eigenmächtig "Sehr langsam" und brachte die gesamte Coda durch Tempo-Zusätze sukzessive zum Stillstand, während Bruckner ein vergleichsweise flüssiges Grundzeitmaß vorsah und "Sehr langsam" erst im zweiten Thema des Adagios vorsah (bei Löwe dann notgedrungen in "Sehr breit" geändert) und in der Coda keine Verlangsamung wünschte (im Gegenteil: Im Manuskript steht kurz vor Ende mit Bleistift sogar ein eigenhändiges "bewegter"!!!).

So war es Giulini unmöglich, die Violinen wie in der Partitur vorgegeben forte und markig beginnen zu lassen, da das Tempo zu langsam ist – er beginnt wie im Erstdruck stehend mezzoforte und nicht "markig" (Tr. 3, Anfang). Auch die Coda (ab ca. 20’58) stirbt wieder einmal den von Löwe bewußt inszenierten "Tod aller Tode", und der Bearbeiter lacht sich im Himmel einmal mehr ins Fäustchen: Natürlich mag danach nun wirklich niemand mehr glauben, daß überhaupt noch irgendetwas folgen sollte – weder das von Bruckner als Notfinale vorgesehene Te Deum noch der schon im Sommer 1896 im Verlauf fertig komponierte, jedoch nicht mehr zuende instrumentierte und überdies leider nur unvollständig überlieferte vierte Satz. Besondere Aufmerksamkeit verdient dieser Mitschnitt durch die ungemein bewegende Intensität der Aufführung selbst (auch wenn das Mitsummen des Maestro oft störend wirkt), sodann durch die besonders geschlossen wirkende Darstellung des ersten Satzes, die – wie dem auf DVD erschienenen Probenmitschnitt zu entnehmen ist – von Giulini hart erarbeitete, gute Balance zwischen Holz, Blech und Streichern, die daraus resultierende gute Durchhörbarkeit des Stimmengefüges und nicht zuletzt das vorzügliche Zusammenspiel des RSO Stuttgart. Gleichwohl ziehe ich die frühe Aufnahme aus Chicago klanglich und interpretatorisch vor; meine Favoriten bleiben die Einspielungen der Wiener Philharmoniker unter Carl Schuricht (EMI CDZ 252 224 2) und der frühe Stuttgarter Mitschnitt unter Sergiu Celibidache (DG 445 476 2).

Dr. Benjamin G. Cohrs [05.10.2006]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Anton Bruckner
1Symphony No. 9 d minor WAB 109 (Dem lieben Gott) 01:02:19

Interpreten der Einspielung

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