annum per annum
Norddeutsche Orgelmusik
Sinus Sin 7002
1 CD • 66min • 2000
24.03.2005
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Als Arp Schnitger wohl im Dezmber 1685 erstmals als Orgelbauer St. Ludgeri in Norden besuchte, trat ihm ein Raum entgegen, der im Wesentlichen demjenigen entsprach, den wir auch noch heute erleben: An einen exuberant ausgestatteten, fast riesig zu nennenden Chor mit vollständigem Umgang schließen ein Querschiff gleicher Breite und ebenfalls beachtlicher Ausdehnung, sowie schließlich ein ehedem romanisches, gotisch befenstertes, einschiffiges Langhaus an, dessen Länge etwa dem des Chores entspricht, die Breite aber nur auf ein Drittel des Chores kommt.
Solche auch akustisch heterogenen Elemente durch das liturgische „Ordnungselement Orgel“ angemessen zu versorgen, war auch für Arp Schnitger eine Herausforderung, deren Lösung man aber offenbar ihm allein überließ: Er ordnete sie um den südöstlichen Vierungspfeiler herum an, wodurch Haupt- und Nebenwerke schräg in Chor und nördliches Querschiff, im weiteren Sinne auch in das schmale Langhaus einsprechen. Der nicht symmetrisch stehende Pedalturm strahlt unmittelbar in Richtung des Quer- und des Langhauses ab, weil musikalisch tiefe Lagen ,diffus abgestrahlt, dem musikalischen Satz leicht eine Undurchsichtigkeit aufprägen, die Schnitger so vermied.
Erweist sich eine solche geniale Lösung des Akustikproblemes im Raum als faszinierender Schachzug eines begnadeten Orgelmachers, dem ein Organist fasziniert zu folgen vermag, so steht der Tonmeister in einem solchen Raum namentlich bei zweikanaliger Aufzeichnungstechnik vor den nicht eben leicht zu lösenden Problemen wegen fehlender Symmetrie bei Direkt- und Raumsignal.
Albert Bolliger, Schweizer Organist und Verleger der vorliegenden CD, löste dieses Problem mit dem Tonmeister Ludger Böckenhoff, so weit dies irgend in den Kräften beider stand. Bolliger bemüht sich um ein prononciertes Spiel, das er aber ganz im Sinne der Formensprache nord- bzw. niederdeutscher Organisten des 16.-18. Jahrhunderts und ihrer mechanisch oftmals denkbar komplexen Orgeln durchaus mit angemessener, reizvoller Behäbigkeit angeht, die auch erfahrene Rücksicht auf die ungleichstufige Temperierung des Instrumentes (heute 1/5-Komma-Teilung) nimmt. Böckenhoff lässt in seiner Technik Raum und Instrument zusammenfließen, ohne daß satztechnische Klarheit verloren ginge. Daß dies die Direktheit des Rückpositives ein wenig zurückdrängt, relativiert die wunderbare Distanziertheit des Oberwerkes, das von Schnitger zweifellos bewusst als zweite, entfernte Ebene des Brustwerkes konzipiert wurde.
Bolliger, hörbar angesteckt von den seit der Restaurierung Jürgen Ahrends vor gut zwanzig Jahren exquisiten klanglichen Möglichkeiten der Orgel, entfaltet ein Mosaik reizvollster Registrierungen, die ihn als spitzfindig hörenden Experimentator zeigen: Er akzentuiert in Telemanns Choralbearbeitung Wie schön leucht't uns der Morgenstern durch den Einsatz des Zimbelsterns die auf Mensch und Gott bezogenen Conclusiones des Nicolai-Textes theologisch, was dem textkundigen Hörer durchaus nahe geht. Zudem verhilft er dem Spielregister „Vogelgesang“ und sogar dem wiedererstandenen Kalkantenglöcklein zu einer musikalisch sinnfälligen Aufgabe.
Unter den durchwegs ausgehörten Registrierungen Bolligers beeindrucken besonders das perfekte Zusammenwirken der Rauschpfeiff des Oberwerkes mit der deckenden Grundstimme Regal 8' des Brustwerkes, sowie dasjenige der Äqualstimmen von Prinzipal 8', Gedeckt 8' und Dulcian 8' (!) im Rückpositiv, was nicht zuletzt auch erst die umsichtige Technik Böckenhoffs ermöglichte. Daß diese das Orgelwerk mitunter etwas breit abbildet, liegt in der Natur der gewählten A-B-Technik schon relativ großer Mikroabstände begründet. Nachdem dabei Toleranzgrenzen ausgeschöpft, aber niemals überschritten werden, muß diese Untiefe vom Tonmeister genau beobachtet und taxiert worden sein, wie denn auch Bolliger derselben Leidenschaft wie Ahrend (vielleicht auch Schnitger?) erliegt, deutlicher quintierende Registrierungen in Plenum und Solo zu realisieren, was mitunter mein Wohlwollen ausschöpft. Weiterhin hätte ich mir angesichts der behäbigen Fantastik norddeutscher Orgelmusik bei Bolliger gelegentlich ein etwas zupackenderes, den Hörer offensiver angehendes Spiel gewünscht, dessen der Sache, offenbar aber nie der eigenen Person dienende Bescheidenheit indirekt auch aus dem informativen Booklet spricht, das keine Vita, sondern lediglich ein Foto Bolligers enthält ...
Eines fehlt mir aber auch hier: Die enorme Bedeutung der Tabulaturschrift in der norddeutschen Orgelkultur, ja der norddeutschen Musikkultur allgemein – vom Instrumentenkonzept über das Spiel bis hin zu Satz und Komposition (Bolliger interpretiert Werke zwischen Sweelinck und den Lübbenauer Tabulaturen, Scheidemann und Buxtehude, Böhm und Telemann) – wird mit keinem Wort gewürdigt. Dies ist bedauerlich, schmälert aber den überaus geschlossenen Eindruck der Produktion nicht.
Besondere Empfehlung, denn ich kenne kein schöneres Porträt der Nordener Orgel.
Thomas Melidor [24.03.2005]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Dietrich Buxtehude | ||
1 | Präludium in C BuxWV 138 | |
Johann Nicolaus Hanff | ||
2 | Helft mit Gotts Güte preisen | |
Dietrich Buxtehude | ||
3 | Canzonetta in C BuxWV 167 | |
4 | Herr Christ, der einig Gottes Sohn BuxWV 191 | |
Georg Philipp Telemann | ||
5 | Wie schön leuchtet der Morgenstern | |
Jan Pieterszoon Sweelinck | ||
6 | Herr Christ, der einig Gottes Sohn | |
Heinrich Scheidemann | ||
7 | Präludium in g | |
M.W.C.B.M. | ||
8 | O Mensch, bewein dein Sünde gross | |
Samuel Scheidt | ||
9 | Da Jesus an dem Kreuze stund | |
Dietrich Buxtehude | ||
10 | Präludium in F | |
Lüneburger Tabulatur | ||
11 | Vita sanctorum | |
Michael Praetorius | ||
12 | Vita sanctorum (Hymnus in festo trinitatis) | |
Heinrich Scheidemann | ||
13 | Victimae pascali laudes | |
Dietrich Buxtehude | ||
14 | Wir danken dir, Herr Jesu Christ BuxWV 224 | |
15 | Canzone in G BuxWV 170 | |
Georg Böhm | ||
16 | Christ lag in Todesbanden (Choralvorspiel) | |
17 | Christ lag in Todesbanden (Choralvorspiel) | |
Dietrich Buxtehude | ||
18 | Präludium g-Moll BuxWV 148 |
Interpreten der Einspielung
- Albert Bolliger (Orgel)