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ARD-Musikwettbewerb Ein Fenster zu... Kompass

ARD-Musikwettbewerb

Fixpunkte: Frauenpower und Südostasien

ARD-Musikwettbewerb 2022: Semifinale Streichquartett

Die Semifinali der Kammermusikgruppierungen haben beim ARD-Musikwettbewerb grundsätzlich die längste Dauer, da jedem Ensemble etwa eine Stunde Spielzeit abverlangt wird. Dagegen geben sich die Solowettbewerbe mit 30 Minuten zufrieden. Dieses Jahr konnten die Streichquartette aus den 12 großen Mozart-Quartetten und dem Quartettschaffen von Anton von Webern wählen – alle spielten die 5 Sätze für Streichquartett, die ich gern mit einem abstrakten Gemälde in sich beißenden Neonfarben vergleiche – und hatten zudem die sehr dankbare Auftragskomposition der bulgarisch-englischen Komponistin Dobrinka Tabakova (Jg.1980) zu bewältigen, die sich als Publikumshit herausstellte.

Eingängige Auftragskomposition

Angeregt wurde Tabakovas The ear of grain („Die Kornähre“, nicht „Das Ohr voll Narben“) durch eine Legende: Gott kommt auf die Erde, wo die Halme noch von oben bis ganz unten Körner tragen. Er sieht, dass die Menschen sein Getreide missachten und beschließt darum, dass die Halme überhaupt keine Körner mehr tragen sollen. Auf das inständige Bitten der Menschen nimmt er den Fluch zurück und die Ähren erhalten ihre heutige Gestalt. Die Komposition verwendet zu Beginn achtstimmig-dissonante Akkorde auf unregelmäßige „bulgarische Rhythmen“, wie sie sich auch in Béla Bartoks Mikrokosmos 6 finden. Virtuose Unisono-Läufe schließen sich an, die später die Basis für Tremoli in höchster Lage der beiden Geigen bilden. Für letztere lauten die Vortragsanweisungen dann „starry“ (sternenhell) und „glittering“ (glitzernd). Das Stück, das übrigens wesentlich tonaler als die Webern-Sätze ist und im Zentrum mit einem strahlenden Fis-Dur glänzt, schließt mit mysteriösen Flageoletts des Cellos, die an eine Klarinette erinnern.

Potential aus Südostasien

Beim Eden Quartet (Südkorea) wechseln sich die beiden Geiger beim Part der 1. Violine ab. Der interpretatorische Akzent liegt bei ihnen auf Weichheit und Rundung. Das klingt zwar durchweg schön, hat jedoch zu wenig Durchschlagskraft und Spannung. Dadurch wirkte auch das Mozart-Quartett KV 428 weichgezeichnet und wenig stringent phrasiert.

Ganz anders das Quartet Integra (Japan), das seine große dynamische Spannweite superb einsetzte. Mozarts KV 421 gelang exzellent. Es wurde sauber artikuliert und „auf Zug“ phrasiert. Die zwei Damen und zwei Herren wirkten wie eine Einheit. Man atmete zusammen, hielt immer Kontakt, was manchmal fast wie Synchronschwimmen wirkte. In der Auftragskomposition zeigten sie, dass sich aus den Tremolo-Stellen melodisches Material gewinnen lässt. Auch der Webern gelang. Ihre Spielfreude übertrug sich auf das Publikum, sodass ihnen stürmisch applaudiert wurde.

Beim Chaos String Quartet (D, I, NL, HU) geriet der Name ein wenig zum Programm. Es spielte durchaus druckvoll, aber keinesfalls präzise genug, um mit Mozarts KV 499 Lorbeeren ernten zu können. Dazu war die Intonation häufig zu vage, das Zusammenspiel zu ungenau und die Intonation eher unterdurchschnittlich. Nach der brillanten Vorgängerleistung wirkte der Vortrag langweilig, woran auch die trashige Bühnenkleidung nichts ändern konnte.

Im zweiten Durchgang am Spätnachmittag gelangen dem Arete Quartet (Südkorea) in den „modernen“ Stücken viele magische Momente. So gespielt, kann ich sogar dem mir verhassten Webern etwas abgewinnen. Die Vier agierten wie aus einem Guss, phrasierten intelligent und wollen vor allem „Musik machen“. Gratulation für die sensible Behandlung der kadenzierenden Soli in KV 589. Allerdings schafften sie es nicht ganz, im Schlusssatz eine Geschichte zu erzählen.

Frauenpower

Im Quartett HANA (EE, JPN, KR) spielen 3 Damen mit einem Cellisten. Sie treffen den Mozart-Ton in KV 590 mit wenig Vibrato am besten und erzielen dadurch eine besondere Klarheit in ihren sorgefältig ausgearbeiteten musikalischen Linien. Die Cellistin ist mit ihrem schlanken und trotzdem tragfähigen Ton ohne jegliche A-Saiten-Weinerlichkeit ein großer Gewinn für das Ensemble. Aber auch hier wieder einheitlichstes Agieren und eine in den Obertönen sehr harmonische Abstimmung, die zur Durchsichtigkeit in KV 590 einen zentralen Beitrag leistete.

Das Risus Quartet (KR, USA) ist ein rein weibliches Ensemble, das seinem Namen alle Ehre macht, indem es ein begeistertes Lächeln auf die Gesichter der Zuhörer zaubert. Sie gaben den „bulgarischen“ Rhythmen Zeit, sich „einzugrooven“ und spielten auch den Webern so zwingend, dass selbst ich ihn in dieser Version gekauft habe. Sie spielen mit soviel innerer Spannung und wie aus einem Guss, dass man nicht weghören kann. In Unisono-Passagen verschmelzen sie zu einem großen Instrument. Phänomenal auch Phrasierung und Intonation in KV 421.

Das Barbican Quartet (BLG, D, CAN, NL) bei dem die Damen mit 3:1 auch wieder in der Überzahl sind, agierte im Vergleich zum Risus Quartet voluminöser, aber auch kühler. Bei ihm waren dadurch die Glissandi bis auf den Steg im Tabakova-Stück wirklich hörbar. Auch Webern geriet höchst plastisch. Mozarts KV 575 empfand ich in den ersten drei Sätzen als etwas langweilig. Ein brillant interpretiertes Finale machte diesen Eindruck jedoch wett und begeisterte das breite Publikum, das stürmisch applaudierte.

Fazit: Streichquartettspiel wird immer mehr Frauensache. Ensembles aus Südostasien bewahren europäische Kulturgüter. Bis auf das Eden- und das Chaos-Quartett wären alle anderen Absolventen des Semifinales absolut finaltauglich. Auch die Jury tat sich mit der Entscheidung wohl schwer, da diese erst kurz nach Mitternacht vorlag. Am Samstag spielen das Chaos String Quartet – für mich unverständlicherweise, allerdings habe ich die ersten beiden Durchgänge nicht gehört. Verständlich hingegen das Weiterkommen des Barbican Quartets, auf jeden Fall verdient dasjenige des Integra Quartets.

Thomas Baack (09.09.2022)

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