Wiedergewonnene Oboenkonzerte
hänssler CLASSIC 92.131
1 CD • 65min • 1999-2000
01.07.2000
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Manchmal neigt die Musikwissenschaft dazu, sich mehr mit Wortspielen zu begnügen als mit aufrichtiger Musikgeschichte. Im Begleittext dieser CD ist die Rede von einem "Rest der Spekulation", während eine direktere Formulierung wesentlich zutreffender wäre, zum Beispiel: "Wenn Bach diese renommierten Werke für Oboe geschrieben hätte (wofür es allerdings keine Indizien gibt), würden sie wahrscheinlich so klingen". Dem Musikologen wäre das aber zu einfach, muß doch alles eingehend zerlegt und analysiert und die auf der Hand liegende Logik vermieden werden. Hier geht es angeblich um "wiedergewonnene Oboenkonzerte" Bachs, nur das Präfix "wieder" träfe nur dann zu, wenn es etwa verschollene Oboenkonzerte schon einmal gegeben hätte. Dafür gibt es keinen Beweis, also hören wir hier Bachs universell-herrliche Musik in einer (wir wollen das in feiner Musikgesellschaft fast unzulässige Wort mit größter Achtung und Vorsicht gebrauchen) "Transkription".
Na und? Das ist doch keine Schande, auch rein musikwissenschaftlich! Es ist allgemein bekannt, daß Barockkomponisten Material liberal von einander "geliehen" haben, auch, daß diejenigen Stücke, die überhaupt das Glück hatten, wiederholt aufgeführt zu werden, hin und her instrumentiert wurden bzw. von vornherein für ein veritables Auswahlmenü von Instrumenten konzipiert wurden (man betrachte Händels berühmte Sonatenreihe op. 1). Ist es nicht offensichtlich, daß nicht etwa spezifische Klangfarben, sondern rein musikalische Werte im Vordergrund standen? Und wieviel Melodien hat selbst Bach in unzählig verschiedene Fassungen "bearbeitet"? Solange es bei den damaligen Instrumenten bleibt und die Interpreten bestrebt sind, stilgerecht zu spielen, sehe ich mit einer solchen Transkription weder ein Problem noch einen Widerspruch zur musikgeschichtsbewußten Aufführungspraxis. Ein Problem entsteht erst dann, wenn verzweifelt nach einer "Berechtigung" gesucht wird, die eigentlich gar nicht nötig ist. Denn "authentisch" kann eine Transkription niemals sein, wirksam und schön aber durchaus.
Tatsache ist: Ingo Goritzkis schwungvolle Phrasierungskunst, tadellose Intonation und ansteckend enthusiastisches Oboenspiel begeistern so sehr, daß die Frage nahe liegt, ob der alte Meister für die Transkription nicht sogar dankbar wäre. Auch wenn das Bach-Collegium-Stuttgart im Ganzen etwas glatt und routiniert spielt, steht es für mich ganz außer Frage, daß Bach große Freude daran hätte, seine Musik so belebt und würdig gespielt zu hören. Musikwissenschaft hin, Musikwissenschaft her – gibt es ein besseres Argument als das?
Patrick Donahue [01.07.2000]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Johann Sebastian Bach | ||
1 | Konzert F-Dur BWV 1053R für Oboe d'amore, Streicher und basso continuo (rekonstruiert nach dem Cembalokonzert E-Dur BWV 1053) | |
2 | Konzert A-Dur BWV 1055R (rekonstruiert nach dem Cembalokonzert BWV 1055) | |
3 | Konzert g-Moll BWV 1056R für Oboe, Streicher und basso continuo (rekonstruiert nach dem Cembalokonzert f-Moll BWV 1056) | |
4 | Konzert d-Moll BWV 1059R für Oboe, Streicher und basso continuo (Rekonstruktion) | |
5 | Konzert c-Moll BWV 1060R (rekonstruiert nach dem Konzert c-Moll für zwei Cembali BWV 1060) |
Interpreten der Einspielung
- Ingo Goritzki (Oboe, Oboe d'amore)
- Christoph Poppen (Violine)
- Bach Collegium Stuttgart (Orchester)
- Helmuth Rilling (Dirigent)