VolkseigenTon
DDR 1949-90 Lyrik/Musik
Berlin Classics 0303411BC
2 CD • 1h 47min • 2023
24.11.2024
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Auch 35 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist ein nicht unwesentlicher Teil des Musik- und Kulturschaffens der DDR nach wie vor weitgehend Terra incognita. Das umfangreiche Archiv an Tonaufnahmen der Plattenlabel Nova und Eterna und des DDR-Rundfunks jedenfalls ist bislang nur sehr selektiv gehoben worden, und das verdienstvolle CD-Label Hastedt ist mit dem Tod seines Gründers ebenfalls verstummt. Insofern erscheint eine Neuproduktion wie das vorliegende 2 CD-Set von Berlin Classics, auf dem Ragna Schirmer am Klavier, Matthias Daneck am Schlagzeug und Axel Ranisch als Sprecher ausgewählte Lyrik und Musik aus der DDR vorstellen, bereits ganz grundsätzlich sehr willkommen.
Lyrik, untermalt, kommentiert und umrahmt von (Klavier-)musik
Dabei ist zunächst festzuhalten, dass der Schwerpunkt des gut 105-minütigen Programms eher auf der Lyrik liegt: Ranisch trägt Gedichte von rund 20 Lyrikern aus der DDR vor von Bertolt Brecht (auf der CD irritierenderweise hartnäckig Bertold geschrieben), Heinz Kahlau, Eva Strittmatter oder Thomas Brasch bis hin zu Volker Braun und Uwe Kolbe. Wenigstens in Ansätzen beschreibt das Programm dabei einen Bogen von den Anfängen bis hin zu zunehmender Krise und schließlich dem Fall der Mauer, Retrospektive und Blick zurück. Oft, aber nicht immer wird Ranisch von Daneck am Schlagzeug unterstützt, der die Gedichte perkussiv einrahmt, illustriert oder kommentiert. Auch Schirmers Klavierspiel erfüllt zum Teil ähnliche Funktionen, manchmal durchaus mit Collagencharakter; so werden u.a. vier Kinderstücke von Günter Kochan und Lyrik von Heinz Kahlau einander gegenübergestellt, parallel entwickelt, kombiniert und fast im Stile eines Melodrams zu einer Klimax geführt. Daneben gibt es auch eine Reihe von Musikbeiträgen, die für sich selbst stehen, so u.a. kleinere Zyklen von Paul Dessau, Georg Trexler und Friedrich Goldmann sowie eine Reihe von Einzelstücken. Insgesamt aber ist dies ein Programm, das Grenzen zwischen den Künsten überschreiten will. Dies gilt auch für Ranischs Rezitation selbst, die teils klassisch orientiert ist, teils aber auch theatralische Momente mit einbezieht.
Recherchieren und Weiterlesen
So liefert das Programm allerhand reizvolle Anregungen; manches (wie Brechts Buckower Elegien oder Volker Brauns Das Eigentum) dürfte weithin bekannt sein, anderes (z.B. das kurze Gedicht von Paul Wiens, das die drei Interpreten trotz ihrer im Beiheft formulierten Bedenken zum Glück mit aufgenommen haben) lädt zum Recherchieren und Weiterlesen an. Dass der Gesamteindruck letztlich trotz des Engagements aller Beteiligten etwas zwiespältig bleibt, liegt nicht zuletzt an der Auswahl des Programms. Im Falle der Lyrik könnte man u.a. nach Louis Fürnberg fragen, viel stärker aber gilt dies für die Musik (die es in dieser Rezension natürlich besonders zu beachten gilt). Allein schon von den Jahrgängen bis 1930 fehlen wichtige Namen wie Butting, Gerster, Spies, Wagner-Régeny, Ernst Hermann Meyer, Schwaen, Cilenšek, Fritz Geißler oder Ruth Zechlin. Nicht alle davon können oder müssen zwar in einem solchen (gewiss auch persönlich gefärbten Programm) ihren Platz finden. Aber auch Kochan, ein exzellenter Komponist, ist eher mit einem Nebenwerk vertreten und nicht etwa z.B. mit seinen Bagatellen und Interludien, und dann eben in Kombination mit Rezitation; ebenso wenig ist Wilfried Krätzschmar hier von seiner typischsten Seite zu erleben, auch Goldmann oder Thiele (das Schlagzeugprä- und postludium zu seiner Tokkata ist m.E. verzichtbar) sind mit frühen Werken vertreten. Dagegen sind Namen wie Trexler oder Nowka von meiner Warte aus zwar willkommen, aber eigentlich eher als Ergänzung z.B. auf einem (hypothetischen) 2 CD-Set mit Etlichem an Klaviermusik aus der DDR.
Entwicklungen und Widersprüche
Speziell im Falle der Musik der 1950er Jahre sind die Interpreten tendenziell bemüht, eine gewisse Distanz zum Ausdruck zu bringen, indem sie die hier vorgestellten (Massen-) Lieder kommentieren, ihre affirmative Aussage problematisieren, verfremden (unterdrücktes Schluchzen in der kurzen Eisler-Reminiszenz, Track 3, Hervorhebung des Marschcharakters gegen Ende der Kinderhymne). Ich bleibe hier skeptisch, auch deshalb, weil sich solche Brüche, Ansätze von Zweifel, Skepsis eigentlich stärker anhand von Entwicklungen im Schaffen der jeweiligen Komponisten verfolgen lassen, und zwar gerade dann, wenn man das, was (z.B. an Liedern, die hier repräsentativ für den Sozialistischen Realismus stehen – es gab natürlich noch vieles mehr) am Anfang stand, erst einmal ungebrochen stehen und geschehen lässt; der Kontrast ergibt sich dann (etwa, wenn man bei Eisler bleiben will, in Form seiner Ernsten Gesänge) von selbst und umso eindringlicher. So empfehle ich sehr gerne die Beschäftigung mit Musik aus der DDR allgemein und auch dieses Album im Speziellen als eine Möglichkeit, für sich einen Anfang zu finden zu einem Kosmos an vielfältiger, großartiger, widersprüchlicher, lohnenswerter Musik, Kunst und Literatur.
Holger Sambale [24.11.2024]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Erika Schirmer | ||
1 | Kleine weiße Friedenstaube | 00:00:28 |
Johannes Bobrowski | ||
2 | Holunderblüte | 00:00:47 |
Hanns Eisler | ||
3 | Wenn Arbeiter und Bauern | 00:02:33 |
Inge Müller | ||
3 | Unterm Schutt III | |
Paul Dessau | ||
4 | Intermezzo I (Für Theodor Brugsch) | 00:00:51 |
5 | Intermezzo II (Für Dieter Zechlin) | 00:01:14 |
6 | Intermezzo III (Für Theodor Brugsch) | 00:01:39 |
Inge Müller | ||
7 | Unterm Schutt I | 00:00:51 |
Paul Dessau | ||
8 | Bitten der Kinder | 00:01:02 |
Hans Naumilkat | ||
9 | Unsere Heimat | 00:04:15 |
Bertolt Brecht | ||
9 | Die Kelle (aus Buckower Elegien) | |
9 | Die Lösung (aus Buckower Elegien) | |
9 | Der Blumengarten (aus Buckower Elegien) | |
9 | Böser Morgen (aus Buckower Elegien) | |
9 | Radwechsel (aus Buckower Elegien) | |
Hanns Eisler | ||
10 | Kinderhymne | 00:01:28 |
Eva Strittmatter | ||
11 | Vor einem Winter | 00:00:54 |
Georg Max Trexler | ||
12 | Der Melancholiker (aus: Vier Temperamente) | 00:01:12 |
Eva Strittmatter | ||
13 | Herbst in Berlin | 00:01:28 |
Georg Max Trexler | ||
14 | Der Choleriker (aus: Vier Temperamente) | 00:01:28 |
Eva Strittmatter | ||
15 | Luxus | 00:00:35 |
Georg Max Trexler | ||
16 | Der Phlegmatiker (aus: Vier Temperamente) | 00:03:33 |
Eva Strittmatter | ||
17 | Mutter! | 00:01:17 |
Georg Max Trexler | ||
18 | Der Sanguiniker (aus: Vier Temperamente) | 00:02:22 |
Eva Strittmatter | ||
19 | Atem | 00:00:49 |
Volker Braun | ||
20 | Hingebung | 00:01:00 |
Thomas Brasch | ||
21 | Die zehn Gebote | 00:01:05 |
Elke Erb | ||
22 | Ehe du herkommst | 00:01:10 |
Wilfried Krätzschmar | ||
23 | Nach einem schönen Tag | 00:01:40 |
Bertolt Brecht | ||
23 | Morgens und abends zu lesen | |
Jo Schulz | ||
24 | Kompott im Schrank | 00:00:40 |
Wilfried Krätzschmar | ||
25 | Ein toller Spaß (Boogie) | 00:01:07 |
Heinz Kahlau | ||
26 | Über meine Mutter | 00:01:28 |
27 | Mein Vater | 00:01:16 |
Siegfried Thiele | ||
28 | Tokkata (Schlagzeugimprovisation) | 00:03:26 |
Heinz Kahlau | ||
29 | Zeig mir im nüchternen Morgen | 00:00:23 |
Günter Kochan | ||
30 | Vier kleine Stücke ohne Überschriften | 00:05:56 |
Heinz Kahlau | ||
30 | Alltägliche Lieder von Liebe (I, II, X, VII, VIII) | |
31 | Die Engel | 00:01:16 |
Dirk Michaelis | ||
32 | Als ich fortging | 00:01:32 |
CD/SACD 2 | ||
Thomas Brasch | ||
1 | Das Meer | 00:01:34 |
Friedrich Goldmann | ||
2 | Intermezzo Nr. 1 (Sehr leicht) | 00:01:45 |
3 | Intermezzo Nr. 2 (Sehr langsam) | 00:03:21 |
Sarah Kirsch | ||
4 | Trauriger Tag | 00:01:16 |
Thomas Brasch | ||
5 | Wie viele sind wir eigentlich noch? | 00:00:52 |
6 | Der schöne 27. September | 00:01:10 |
Andre Asriel | ||
6 | Auf der Sonnenseite | |
Matthias Daneck | ||
7 | Hommage à Baby Sommer | 00:02:38 |
Sarah Kirsch | ||
8 | Landaufenthalt | 00:02:01 |
Dieter Nowka | ||
9 | Sostenuto | 00:01:41 |
Sarah Kirsch | ||
10 | Jemand bekommt Kohlen | 00:01:04 |
Uwe Kolbe | ||
11 | Male | 00:00:42 |
Andre Asriel | ||
12 | 8 Variationen für Xylophon und Klavier | 00:01:03 |
Uwe Kolbe | ||
13 | Hineingeboren | 00:00:59 |
14 | Komm | 00:00:44 |
Karl Mickel | ||
15 | Bier. Für Leising | 00:00:55 |
Elke Erb | ||
16 | Warnung | 00:00:26 |
Bert Papenfuß-Gorek | ||
17 | rasender schmerts weiterlachen | 00:00:24 |
18 | des unterlassenen auferstehung (zur hingabe) | 00:01:20 |
Kurt Bartsch | ||
19 | Sozialistischer Biedermeier | 00:00:39 |
Paul-Heinz Dittrich | ||
20 | Klaviermusik 2 | 00:08:42 |
20 | Assisi nach Paul Celan für Schlagzeug | |
20 | Machwerk, Lese- und Lautgedichte | |
Paul Wiens | ||
21 | Sie nahmen mich mit | 00:00:50 |
Erhard Ragwitz | ||
22 | Vier kleine Klavierstücke Nr. 2 | 00:01:05 |
Wolf Biermann | ||
23 | Ermutigung | 00:01:02 |
Bettina Wegner | ||
24 | Sind so kleine Hände | 00:02:34 |
Reiner Kunze | ||
25 | Die mauer (zum 3. Oktober 1990) | 00:00:37 |
Volker Braun | ||
26 | Das Eigentum (Nachruf, 4. August 1990) | 00:01:04 |
Peter Hacks | ||
27 | 1990 | 00:00:46 |
René Hirschfeld | ||
28 | Sonett V für Schlagzeug und Klavier | 00:08:31 |
Eva Strittmatter | ||
29 | Strahlung | 00:01:07 |
Johannes R. Becher | ||
30 | In dir gehen viele Schritte | 00:01:22 |
Hanns Eisler | ||
30 | Auferstanden aus Ruinen |
Interpreten der Einspielung
- Ragna Schirmer * 1972 (Klavier)
- Matthias Daneck * 1965 (Schlagzeug)
- Axel Ranisch (Sprecher)