Cipriani Potter
Complete Symphonies Vol. 2
cpo 555 500-2
1 CD • 77min • 2022, 2023
07.11.2024
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
„Ich werde nie eine Symphonie komponieren! Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen hinter sich marschieren hört“, schrieb bekanntlich Johannes Brahms. Den britischen Komponisten des frühen 19. Jahrhunderts – einer Zeit exzessiven Imports von Musik und Musikern aus Kontinentaleuropa – dürfte es ähnlich gegangen sein. Für sie hieß der Riese Haydn, Beethoven, von dem Brahms sprach, kam freilich später ebenfalls hinzu. Aber wie Brahms schließlich doch noch vier Symphonien komponierte, so gab es auch im Vereinigten Königreich der 1810er Jahre einen Komponisten, der den Bann brach, sich in London als Autor anspruchsvoller Orchesterwerke etablieren konnte und als Lehrer namhafter Schüler eine Tradition britischer Symphonik begründete: Cipriani Potter.
Ein britischer Symphoniker in Zeiten des Musikimports
Der 1792 geborene Potter erwarb sich frühzeitig Ruhm als Pianist, war ein führendes Mitglied der Londoner Philharmonic Society, amtierte von 1832 bis 1859 als Direktor der Royal Academy of Music und stand bis zu seinem Tode 1871 in hohem Ansehen. Dennoch endete seine Tätigkeit als schöpferischer Künstler im Wesentlichen bereits 1837, als er 45 Jahre zählte – danach komponierte er nur noch wenige Gelegenheitsstücke und überarbeitete ältere Werke. So bedeutend im Rückblick Potters Leistungen für die britische Musikgeschichte erscheinen mögen, letztlich scheint er – der übrigens ein eifriger Förderer Beethovens war und sich im Alter noch für Brahms einsetzte – angesichts des nach wie vor vorrangig auf Import setzenden Londoner Musiklebens als Komponist resigniert zu sein.
Von Potter sind insgesamt neun Symphonien aus den Jahren zwischen 1819 und 1834 überliefert – komponiert haben muss er mindestens 13, da das chronologisch sechste dieser Werke von ihm selbst als Nr. 10 bezeichnet wurde. Die nächste Symphonie trägt dagegen die Nummer 2 – aus welchen Gründen, ist unklar. Die beiden Werke in B-Dur (1821, nicht nummeriert) und c-Moll (1826, überarbeitet 1847, laut Komponist „Nr. 6“), die Howard Griffiths und das BBC National Orchestra of Wales in der zweiten Folge ihrer Gesamtaufnahme vorgelegt haben, sind chronologisch die zweite und dritte der erhaltenen Symphonien Potters. Außerdem enthält das Album die Concertante für Klavier, Violine, Violoncello, Kontrabass und Orchester und die Ouvertüre zu Shakespeares The Tempest, Potters letztes großes Werk.
Individuelle Formgestaltung
Stilistisch ist Potter ein Nachfolger der Wiener Klassiker, allerdings ohne dass man ihm Haydn, Mozart oder Beethoven als konkretes Vorbild zuordnen könnte. Der frühe Mendelssohn ließe sich durchaus als Verwandter im Geiste benennen, soweit es die klassizistischen Tendenzen seines Schaffens betrifft – zur Romantik des Sommernachtstraums oder der Hebriden-Ouvertüre wird man bei Potter aber schwerlich Gegenstücke finden. Dafür spricht aus den Werken des englischen Meisters ein mitreißendes Arbeitsethos. Potter war ein begnadeter Kontrapunktiker und Motivverarbeiter, der bei der Gestaltung seiner Sätze keineswegs schematisch vorging. Stücke wie der Kopfsatz der c-Moll-Symphonie oder die Tempest-Ouvertüre belegen hinlänglich, dass ein Sonatensatz für ihn kein starres Modell, sondern ein Individuum war. Seiner stets geschickten Führung der musikalischen Handlung entspricht seine meisterhafte Handhabung des Orchesterklangs, die sich mit der Zeit noch verfeinert. Mit der Concertante, einem Variationszyklus über das bekannte Thema La Follia, hat Potter ein wahres Unikum vorgelegt. Einleitung und Coda verarbeiten frei die Motive des Themas, die Variationen stellen jeweils eines der Soloinstrumente in den Mittelpunkt, erst am Ende finden alle vier Solisten und das Orchester zusammen. Dabei erscheint das Thema im ganzen Stück nie in seiner originalen Gestalt – ein ebenso einfacher wie wirkungsvoller Kunstgriff, der dem Werk den Charakter eines phantastischen Kaleidoskops verleiht.
Effektvoll dirigiert, aber...
Aus Howard Griffiths' Dirigat spricht der Wille, Potters Musik möglichst brillant und effektvoll zu präsentieren. Sie klingt kantig, zackig, sportlich, aber eben kaum mehr als das. Ein subtileres Eingehen auf die harmonische Entwicklung und die satztechnische Struktur hätte an manchen Stellen erfrischend gewirkt und den Eindruck eines gewissen Leerlaufs vermieden, für den man nicht den Komponisten verantwortlich machen sollte. Die für die Concertante ausgewählten Solisten werden den virtuosen Anforderungen ihrer Stimmen vollumfänglich gerecht. Als besonderen Pluspunkt der Produktion muss man den Begleittext hervorheben, in welchem Bert Hagels, Herausgeber der Potterschen Symphonien und einer der besten Kenner der symphonischen Literatur des frühen 19. Jahrhunderts, über Potters Leben ausgiebig Auskunft gibt und jedes der eingespielten Werke detailliert bespricht.
Norbert Florian Schuck [07.11.2024]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Cipriani Potter | ||
1 | Sinfonie c-Moll | 00:24:58 |
5 | Concertante d-Moll für Violine, Violoncello, Kontrabass, Klavier und Orchester | 00:13:56 |
6 | Sinfonie B-Dur | 00:25:03 |
9 | Ouvertüre zu Der Sturm | 00:12:57 |
Interpreten der Einspielung
- Mishka Rushdie Momen (Klavier)
- Jonian Ilias Kadesha (Violine)
- Tim Posner (Violoncello)
- Philip Nelson (Kontrabass)
- BBC National Orchestra of Wales (Orchester)
- Howard Griffiths (Dirigent)