Vítĕzslava Kaprálová
The Completed Orchestral Works
cpo 555 568-2
2 CD • 1h 43min • 2022
10.06.2024
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Die mit gerade mal 25 Jahren verstorbene Tschechin Vítězslava Kaprálová (1915‒1940), offenkundig schon als Jugendliche eine kompositorische Hochbegabung, studierte nach anfänglichem Unterricht durch ihren Vater Václav Kaprál – selbst noch Schüler Janáčeks – bei Vítězslav Novák in Prag, schließlich in Paris bei Bohuslav Martinů. Für ihre Militär-Sinfonietta erhielt sie 1937 den Preis der Smetana-Gesellschaft und trat damit zudem als erste weibliche Dirigentin der Tschechischen Philharmonie auf; ihre Lehrer hierbei waren keine Geringeren als Zdeněk Chalabala und später Charles Münch. Im Oktober 1937 zog Kaprálová nach Paris, wo sie wegen der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nazis blieb und heiratete dort 1940 Jiří Mucha, den Sohn des berühmten Jugendstil-Malers Alfons Mucha. Vor dem Einmarsch der Deutschen evakuierte man sie nach Montpellier, wo sie am 16. Juni – wohl an Typhus – starb. Die Doppel-CD von cpo enthält erstmals auf einer Veröffentlichung sämtliche vollendeten Orchesterwerke der Komponistin.
Opus 1 in Klavier- und Orchesterfassung
Kaprálovás offizielles Opus 1 – die Suite en miniature von 1935 – geht auf eine 4 Jahre ältere Klavierfassung zurück, die hier quasi als Bonus ebenfalls vorliegt. Nicht nur interessant, um sich die enorme Entwicklung der Komponistin in kürzester Zeit bewusst zu machen, sondern auch, weil diese Klavierfassung in den bisherigen Gesamtaufnahmen ihrer Klavierwerke unterschlagen wird. Zum direkten Vergleich der beiden Versionen muss man allerdings die CD wechseln. Bereits hier beweist die Janáček-Philharmonie aus Ostrava, dass sie dem doch typisch tschechischen Idiom Kaprálovás besser gerecht wird als etwa die Naxos-Aufnahme aus Michigan. Die junge Dirigentin Alena Hron traut sich generell etwas zu, das praktisch allen bisherigen Einspielungen – sämtliche Orchesterwerke der Komponistin sind zumindest noch als Streams in älteren tschechischen Aufnahmen, meist entstanden zwischen ca. 1955 und 1975, greifbar – abgeht: der Mut zu emotionaler Übertreibung. Dies erscheint dem Rezensenten in diesem Fall durchaus angebracht, sogar nötig und ist nicht nur Ausdruck jugendlichen Überschwangs, sondern ein besonderes Merkmal von Kaprálovás Kunst, was im kalten Krieg den Kommunisten freilich als dekadent galt.
Maßstabsetzende Darbietung des Klavierkonzerts
Vom Klavierkonzert d-Moll op. 7 gibt es mittlerweile mehrere gute Aufnahmen. Neben der CD aus Michigan mit der Solistin Amy I-Lin Cheng hat Supraphon erst kürzlich eine Neueinspielung (Marek Kozák) herausgebracht, die zu Recht hochgelobt wurde. Dennoch muss diese sich von der vorliegenden Darbietung nochmals deutlich geschlagen geben: wegen des vorgenannten Enthusiasmus von Orchester und Dirigentin – der erste Satz ist übrigens nicht umsonst mit Allegro entusiastico überschrieben – vor allem aber der überaus leidenschaftlichen, glutvollen Wiedergabe des Pianisten Tomáš Vrána. Er meistert nicht nur die noch an spätromantische Traditionen anknüpfende Virtuosität mit Bravour, sondern gestaltet jedes Detail emotional völlig schlüssig und ungemein klangschön, ohne übers Ziel hinauszuschießen. Man höre nur das lange Solo – mehr als eine simple Kadenz – gegen Ende des Kopfsatzes, das dem Zuhörer fast den Atem verschlägt oder die jazz-inspirierte Begeisterung im Finale. Alleine dieses Stück rechtfertigt den Erwerb der Produktion.
Modernere Wege und ein hinreißendes Orchesterlied
Die übrigen größeren Werke erklingen ebenfalls in musikalisch fast konkurrenzloser Qualität. Bei der erwähnten Militär-Sinfonietta, welche die Komponistin dann 1938 sogar bei der BBC dirigiert hat, bleibt deren nationalistischer Zug hier anscheinend mit Bedacht ein wenig unterbelichtet: zugunsten struktureller Klarheit. Wirklich witzig wirkt das im Lento (!) der Suita rustica eingebaute Zitat des berühmten Furiants aus Smetanas Die verkaufte Braut. Die Partita für Klavier & Streicher – stark durch Martinů geprägt – ist schon auf dem Weg in Richtung Strawinsky. Besondere Erwähnung verdient das Orchesterlied Sbohem a šáteček, das es mühelos mit den besten Gattungsbeiträgen Richard Strauss‘ aufnehmen kann: Veronika Rovná singt es vorzüglich, jedoch etwas zu brav. Auch aufnahmetechnisch auf hohem Level, wobei der stellenweise großzügige Hall Geschmackssache ist, erspielt sich das Doppelalbum eine ausdrückliche Empfehlung.
Vergleichsaufnahmen: [Prélude de Noël, Klavierkonzert, Sbohem a šáteček, Suite en miniature, Militär-Sinfonietta] Amy I-Lin Cheng, Nicholas Phan, Orchester der University of Michigan, Kenneth Kiesler (Naxos 8.574144, 2015/16); [Klavierkonzert] Marek Kozák, Prager Rundfunk-Symphonie-Orchester, Robert Jindra (Supraphon SU 4337-2, 2020).
Martin Blaumeiser [10.06.2024]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Vítězslava Kaprálová | ||
1 | Suite en miniature op. 1 | 00:09:58 |
5 | Military Sinfonietta op. 11 | 00:15:50 |
6 | Suita rustica op. 19 | 00:16:24 |
9 | Waving Farewell op. 14 | 00:05:57 |
10 | Prélude de Noël | 00:02:08 |
11 | Fanfare | 00:00:33 |
CD/SACD 2 | ||
1 | Partita for Piano and Strings op. 20 | 00:21:36 |
4 | Klavierkonzert d-Moll op. 7 | 00:23:14 |
7 | Suite op. 1 für Klavier (Originalversion) | 00:06:57 |
Interpreten der Einspielung
- Veronika Rovná (Sopran)
- Tomáš Vrána (Klavier)
- Janáček Philharmonic Ostrava (Orchester)
- Alena Hron (Dirigentin)