Deserno plays Dinescu
Works for Violoncello by Violeta Dinescu
Kaleidos KAL 6365-2
1 CD • 75min • 2021, 2022
05.01.2024
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Es ist bemerkenswert, wie gut das Schaffen Violeta Dinescus (Jg. 1953) auf CD dokumentiert ist, jedenfalls im Bereich der Kammermusik, die aber als einer der expliziten Schwerpunkte ihres Œuvres durchaus repräsentativen Charakter besitzen dürfte. So listet der CD-Versand jpc stattliche 17 derzeit erhältliche Alben, die zu wesentlichen Teilen der Musik Dinescus gewidmet sind. Einer der Gründe dafür sind eine Reihe engagierter Interpreten und Label, die sich für die Werke der in Rumänien geborenen, mittlerweile schon lange in Oldenburg wirkenden Komponistin einsetzen. Zu ihnen gehört die Cellistin Katharina Deserno, die nun noch im Jubiläumsjahr 2023 ein Soloalbum herausgebracht hat, das zur Gänze Dinescus Musik für solistisches Violoncello gewidmet ist (gewissermaßen als Folgealbum einer weiteren Solo-CD mit Musik von Bach und Dinescu, die bereits vor einigen Jahren erschienen ist).
Hereinhorchen in Gesten und Momente
Eines der beiden Hauptwerke der neuen CD ist Gehen wir zu Grúschenka (2021), ein halbstündiger Zyklus, dessen Titel sich auf die Figur der Gruschenka aus Dostojewskis Die Brüder Karamasow bezieht. Wenn Dinescu selbst das Werk als „Ein-Frau-Oper“ bezeichnet, dann bezieht sich das nicht nur auf einige Textfragmente, die von der Cellistin gesprochen (und dabei gedehnt, verfremdet und vieles mehr) werden, sondern auch auf ein Spektrum erweiterter Spieltechniken, das deutlich über „Klassisches“ (col legno, am Steg, Glissandi etc.) hinausreicht und von allerhand Geräuschhaftem (Quietschen, Knarzen) bis hin zu körperlichen Gesten reicht. Dass Dinescu gerne zwischen den Extreme pendelt und heftige Ausbrüche kauernd-meditativen Passagen gegenüberstellt, ist von vielen ihrer Werke bekannt, ebenso wie man immer wieder auch improvisatorisch anmutenden (und den Interpreten in der Tat große Freiräume zugestehenden) Abschnitten begegnet, nicht selten mit Folkloreanklängen und gerade in den vorliegenden Werken gerne auf Basis von Borduneffekten, die die leeren Saiten des Cellos nutzen. Es ist, wie Dinescu auch selbst bemerkt, eine Musik des Augenblicks, die in Gesten und Momente hereinhorcht, sie gleichsam unter der Lupe betrachtet. Eine stringente Dramaturgie, eine zwingende Architektur lässt sich indes schwerlich feststellen; die Musik besitzt immer etwas Kaleidoskopisches. Trefflich streiten kann man sich wohl darüber, ob so manche Stelle nun künstlerisch sublimiert oder nicht doch prätentiös-übersteigert erscheint. Ein Beispiel ist der Einsatz der Stimme am Ende des 3. Satzes, wenn Gelächter in Kreischen und schließlich in Zischen übergeht. Manchen Hörer mag dies bewegen, mir selbst ist dergleichen wesentlich zu explizit, zu drastisch, und letztlich vor allen Dingen befremdlich.
Erweiterte Spieltechniken und Folkloreanklänge
Interessant ist der Vergleich zum etwa drei Jahrzehnte zuvor entstandenen Corona (1993). Stärker als viele spätere Werke Dinescus geht dieses Stück von konkreten melodischen Gesten aus, eine Art rezitativisch-deklamierender Monolog, beginnend mit expressiver Gestik auf C, kontrastiert unter anderem durch elegische, folkloristisch geprägte Passagen (auf d). Im Grunde genommen also durchaus Charakteristika, denen man auch in Dinescus jüngeren Werken begegnet, wie auch erweiterten Spieltechniken, Verfremdungen, die hier aber eher dergestalt eingesetzt werden, dass an den Höhepunkten der Musik etwas „kippt“. Am Ende begegnet man dem C des Anfangs wieder, nun aber eher geraunt, als eine Art Echo, wobei in der Totalen auch hier die Lust am Auskosten des Moments den großen Bogen überwiegt. Für mich insgesamt das überzeugendere der beiden Werke. Die übrigen vier Stücke sind tendenziell kürzer gehalten; Lytaniae I (Fassung von 2013) geht im Laufe von 12 Minuten die vier leeren Saiten des Cellos durch, die glissandierend und mikrotonale Reibungen ausnutzend, teils auch unter Verwendung des Tonvorrats einer alten rumänischen Litanei umspielt werden, am Ende sinkt die C-Saite noch um einen Halbton herab. Clara (2019) ist ein Gruß an Clara Schumann und gleichzeitig eine Art Wiegenlied für Desernos Tochter, die beiden in den hier präsentierten Fassungen gerade 2023 neu entstandenen Stücke Flammentropfen und Abendandacht verwenden altes Material und sind per Playback mehrstimmig gehalten. In der Abendandacht gefällt die Schlichtheit des modal gehaltenen Melos, während Flammentropfen wiederum vorwiegend experimentell anmutet.
Deserno als exzellente Anwältin Dinescus
Katharina Deserno ist eine exzellente Interpretin dieser Musik, die durch ihr expressives, deklamatorisches, Nuancierungen bewusst auskostendes Spiel besticht und einen eminenten Sinn für den Fokus auf dem Augenblick, der diese Musik eben kennzeichnet, beweist. Den virtuosen Anforderungen ist sie ohnehin souverän gewachsen, und so ist Dinescus Musik bei ihr in den besten Händen. Der wortreiche geistige Hallraum, mit dem sich diese Stücke im Begleitheft umgeben, wirkt dabei zuweilen überladen (wenn da etwa von guten Feen, Sternenkombinationen, Horoskopen oder imaginären Gedankenaustauschen die Rede ist); aufschlussreich u.a. die Notenbeispiele. Aus den drei Dinescu-Neuerscheinungen des laufenden Jahres, die ich für dieses Magazin begutachtet habe, verdient diese m.E. besondere Erwähnung und Empfehlung.
Holger Sambale [05.01.2024]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Violeta Dinescu | ||
1 | Gehen wir zu Grúschka | 00:29:45 |
6 | Lytaniae I | 00:12:02 |
7 | Clara | 00:03:44 |
8 | Corona | 00:18:58 |
9 | Flammentropfen | 00:05:33 |
10 | Abendandacht (Flexibler Kanon für Violoncello) | 00:04:39 |
Interpreten der Einspielung
- Katharina Deserno (Violoncello)