Inspiration populaire
Estelle Revaz, Anaïs Crestin
Solo Musica SM 390
1 CD • 68min • 2021
02.05.2023
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Trotz ihrer gedrängten Agenda ist Estelle Revaz keine Jet Set-Musikerin, die es rastlos von Konzert zu Konzert zieht. Sie geht den Dingen auf den Grund, beschäftigt sich etwa auch damit, wie wichtig die Musik für die Identität eines Volkes ist. „Ich glaube, dass die Menschen schon seit Urzeiten singen. Musik hat es den Menschen schon immer ermöglicht, eine gemeinsame Geschichte und Kultur zu teilen.“ Und das ist bis in die Musik unserer Tage spürbar. Auf ihrer aktuellen CD „Inspiration populaire“ etwa hat sie sich intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt und zusammen mit der Pianistin Anaïs Crestin Werke eingespielt, die ohne die sogenannte „Volksmusik“ kaum denkbar wären, Robert Schumanns Stücke im Volkston etwa.
Klangreise durch verschiedene Kulturen
Der Ausgangspunkt für die CD war Revaz’ Reise durch die „Volks“-Musik Südamerikas: „Mit Anaïs Crestin wollten wir eine Klangreise durch verschiedene Kulturen anbieten. Der Ausgangspunkt war die Sonate von Alberto Ginastera. Anaïs hatte einige Jahre zuvor den Ginastera-Wettbewerb in Argentinien gewonnen, und auch ich fühlte mich dieser Musik aufgrund ihres feurigen Charakters sehr verbunden. Das Stück wurde noch viel zu selten öffentlich aufgeführt und so war es für uns naheliegend, es als zentrales Stück der CD zu wählen. Leoš Janáčeks Pohadka hatten wir vor über zehn Jahren bei unserem allerersten Konzert gespielt. Daher war es selbstverständlich, dass wir bei der Zusammenstellung des Programms an dieses Werk dachten. Schumanns Fünf Stücke im Volkston op. 102 war für den roten Faden des Projekts ebenso selbstverständlich wie David Poppers Ungarische Rhapsodie op. 68, die ich mit großem Vergnügen spiele, seit ich 13 Jahre alt bin.“
Inspirationsquelle
Diese Musik, ist Revaz überzeugt, wäre ohne die intensive Beschäftigung der Komponisten mit der Musik ihres Volkes, nicht möglich, z.B. im Falle Janáčeks. „Diese Musik ist tatsächlich zu sehr mit dem Wesen der Volksmusik seines Heimatlandes verbunden, um ohne sie zu existieren. Janáčeks Musik ist das Ergebnis einer lebenslangen Beschäftigung mit der Volksmusik seines Heimatlandes. Er ging aufs Land, er notierte die Volksthemen, die er hörte, er notierte die Rhythmen der Tänze.“ Und er beschäftigte sich auch mit seiner Muttersprache. „Er studierte ihren Tonfall, ihre Melodien und ihre Rhythmen. Er fand heraus, dass dies letztlich das war, was ihn der Identität seines Volkes am nächsten bringen konnte, und das versuchte er in Musik umzusetzen. Der Ansatz ist also ganz anders als beispielsweise bei Schumann, bei dem es sich eher um eine Stilübung handelt.“
Verbindung mit der Heimat im Exil
Eine andere Funktion hatte die Musik im Falle von Ginastera, der vor der Diktatur in seinem Heimatland Argentinien nach Genf fliehen musste. Ein durchaus besonderer Ort für die Wahl-Genferin Revaz, die dort unter anderem drei Jahre lang Artist in Residence beim Genfer Kammerorchester war. „Die Musik war Ginasteras Mittel, um trotz des erzwungenen Exils mit seinen Wurzeln verbunden zu bleiben. Die Sonate für Cello und Klavier op. 49 bezieht sich auf die argentinische Pampa mit ihren singenden und tanzenden Gauchos. Im Finale haben einige Passagen einen besonderen Wiedererkennungswert, z. B. mit den traditionellen Rhythmen des Carnavalito. In dieser Sonate geht es auch um die Liebe. Sie ist das Kind, das Ginastera mit seiner letzten Frau, der Cellistin Aurora Natola-Ginastera, nicht bekommen konnte.“ Doch Lokalkolorit ist hier beileibe nicht alles, Ginasteras Musik ist durchaus komplex. „Außerdem ist die Sonate auch von den Kompositionstechniken des 20. Jahrhunderts geprägt. Eine kleine Anspielung findet sich im dritten Satz, der tatsächlich in Form eines perfekten Spiegels komponiert ist. Ausgehend von der Kadenz des Klaviers wird der erste Teil Note für Note rückwärts abgespielt.“
Identitätsstiftende Elemente
Details wie diese sind für die Interpretation durchaus wichtig, generell setzt Revaz aber auf einen breiten Interpretationsansatz. „Ich denke, es ist immer wichtig, in die verschiedenen Inspirationsquellen eines Werkes einzutauchen. Sie liefern uns grundlegende Informationen, um eine aufrichtige, authentische und informierte Interpretation zu erstellen.“ Bei Ginastera sei es zum Beispiel interessant gewesen, argentinische Folklore-Rhythmen zu erkennen, zu verstehen und auch zu fühlen. Es war aber auch wesentlich, sich die Pampa und die Gauchos auf ihren Pferden vorstellen zu können wie auch in die Liebesgeschichte zwischen dem Komponisten und seiner Frau und in die Kompositionstechniken des 20. Jahrhunderts eintauchen zu können. Das identitätsstiftende Element sei aber die Verbindung mit der Volksmusik, die auch eine politische Komponente berge. „Ich glaube, dass Volksmusik die Identität eines Volkes widerspiegelt. Historisch gesehen ist es hingegen richtig, dass sie besonders in der klassischen Musik zu einer Zeit verwendet wurde, als die verschiedenen Völker nach Emanzipation dürsteten. Das sieht man auf der CD „Inspiration populaire“ bei de Falla oder Janáček. De Falla versuchte wie viele seiner Kollegen, sich von der Last der italienischen Herrschaft zu distanzieren, während Janáček wie Smetana oder Dvořák versuchte, sich von der langen Habsburger Herrschaft zu befreien, die fast drei Jahrhunderte angedauert hatte.“
Das Programm der CD „Inspiration populaire“ wurde lange vor dem Beginn von Revaz‘ eigenem politischem Engagement entwickelt, die Aufnahme entstand dann erst später. „Die Feststellung, dass die Komponisten, die ich spielte, sich auch politisch engagiert hatten, war für mich eine Inspiration. Es gibt viele verschiedene Arten, sich zu engagieren, aber als Künstler tun wir das jeden Tag.“ Und das scheint angesichts der prekären Situation vieler Künstlerinnen und Künstler auch nötig. „Ich habe mich zunächst für den Kultursektor eingesetzt. Mein Engagement wurde daher von meinem beruflichen Umfeld eher positiv aufgenommen“, so Revaz.
Guido Krawinkel [02.05.2023]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Manuel de Falla | ||
1 | El paño moruno (aus: Siete canciones populares españolas) | 00:02:23 |
2 | Nana (aus: Siete canciones populares españolas) | 00:02:35 |
3 | Canción (aus: Siete canciones populares españolas) | 00:01:32 |
4 | Polo (aus: Siete canciones populares españolas) | 00:01:17 |
5 | Asturiana (aus: Siete canciones populares españolas) | 00:02:23 |
6 | Jota E-Dur (aus: Siete canciones populares españolas) | 00:03:06 |
Leoš Janáček | ||
7 | Pohádka (Märchen) | 00:11:55 |
Robert Schumann | ||
10 | Vanitas vanitatum op. 102 Nr. 1 (Mit Humor - aus: Fünf Stücke im Volkston op. 102) | 00:03:26 |
11 | Langsam op. 102 Nr. 2 (aus: Fünf Stücke im Volkston op. 102) | 00:03:41 |
12 | Nicht schnell, mit viel Ton zu spielen op. 102 Nr. 3 (aus: Fünf Stücke im Volkston op. 102) | 00:03:45 |
13 | Nicht zu rasch op. 102 Nr. 4 (aus: Fünf Stücke im Volkston op. 102) | 00:02:03 |
14 | Stark und markiert op. 102 Nr. 5 (aus: Fünf Stücke im Volkston op. 102) | 00:03:14 |
Alberto Ginastera | ||
15 | Sonate op. 49 für Violoncello und Klavier | 00:19:33 |
David Popper | ||
19 | Ungarische Rhapsodie op. 68 | 00:07:17 |
Interpreten der Einspielung
- Estelle Revaz (Violoncello)
- Anaïs Crestin (Klavier)