Ülo Krigul
Liquid Turns
BIS 2590
1 CD/SACD stereo/surround • 66min • 2021
06.09.2022
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Den jungen estnischen Komponisten Ülo Krigul, Jahrgang 1978, kennt man womöglich durch zwei seiner Orchesterwerke, die unlängst beim Label alpha classics erschienen sind; die vorliegende neue BIS-SACD mit Chorwerken ist indes das erste Album, das zur Gänze seiner Musik gewidmet ist. Alle vier hier vorgestellten Werke wurden für den Estnischen Philharmonischen Kammerchor und seinen (mittlerweile ehemaligen) Chefdirigenten Kaspars Putniņš geschrieben, drei davon in jüngster Zeit, als Krigul Composer in Residence des Chors war. Teilweise beziehen die Stücke elektronische Klänge mit ein, in einem Fall auch ein Streichorchester, im Zentrum steht aber stets der Chor.
Baltisch geprägter Tonfall, Minimalismus und Ausdruckskraft
Krigul zeigt sich in den vier Werken als stilistisch variabler Komponist. Am gelungensten erscheint mir der A-Cappella-Zyklus Aber schau immer nach oben nach Worten des estnischen Religionsphilosophen Uku Masing, sechs überwiegend langsame Chöre mit Ausnahme der scherzohaften Nummern 3 und 5. Das estnische Musikinformationszentrum beschreibt Kriguls Musik als „expressiven Postminimalismus“, und sicher ist Krigul bis zu einem gewissen Grad im baltischen Minimalismus verwurzelt, übrigens dezidiert auch im Hinblick auf den nationalen Tonfall seiner Musik, z.B. in Form von typischen Intervallen und Harmonien (Quintschichtungen). So würde ich etwa das einleitende Atmungen, über weite Strecken ein Des-Dur-Satz von stiller Schönheit, mindestens so sehr in der generellen Tradition baltischer Chormusik verorten wie im Fahrwasser (unorthodox gestalteter) Minimal Music. Wenn gegen Ende des Stücks die Ruhe kurz von einem kontrastierenden tonalen Zentrum um a-moll gestört wird, einer Art gedämpftem Aufschrei, dann weist dies bereits auf die expressive Gestik einiger der weiteren Chöre (Nr. 4 Keine Wolke kehrt wieder) voraus. Tonale Relationen spielen überhaupt keine geringe Rolle: so lässt Krigul seinen Zyklus schließlich mit der Wiederkehr des Anfangs ausklingen, nun aber in D-Dur, also womöglich einmal mehr einer Art „Blick nach oben“. Hervorzuheben ist Kriguls sorgfältige, einfallsreiche Auslegung der Textvorlage (exemplarisch an Nr. 2 nachzuvollziehen), aber auch seine melodische Begabung, die immer wieder sehr charakteristische, einprägsame Situationen hervorbringt.
Meditation und Nachhören von Klängen
Am Beginn der CD steht die Komposition Wasser ist für Chor und Elektronik, deren Text (mit dem sie erst im Nachhinein versehen wurde) von Ilmar Laaban, einer Art estnischem Ernst Jandl, stammt. Elektronik bedeutet hier, dass Klänge großer Gongs gesamplet werden, die der Chor aufgreift; eine weitgehend meditative, sich in lang gedehnten Perioden abspielende Musik, zeitweise auch z.B. Flüstern mit einbeziehend, obwohl der traditionelle Chorklang insgesamt klar dominiert. Ähnliches gilt auch für Anfang und Schluss von And the Sea Arose nach biblischen Texten (mit Streicherbegleitung); dazwischen findet sich allerdings sehr wohl auch dramatisch akzentuiertere Musik, und es sind gerade diese Passagen, die besonders überzeugen. Dagegen wirkt Kriguls Den-Klängen-Nachhören, das Vertiefen in einzelne Akkorde oder Töne auf lange Sicht etwas zäh, hier stellt sich mitunter durchaus der Eindruck einer gewissen Leere ein. Die CD wird mit liquid turns beschlossen, das das von And the Sea Arose und Aber schau immer nach oben begonnene Triptychon abschließt, indem es Elemente beider Werke unter Zuhilfenahme von Elektronik miteinander kombiniert und auseinander hervorgehen lässt. Meines Erachtens handelt es sich hier um das schwächste Stück auf der CD, denn was hier durch die Elektronik zusätzlich hereingebracht wird (Geräusche von Eis und Wasser, tiefe Brummtöne / computergeneriertes „Raunen“, gegen Ende auch eine elektronische Stimme), erreicht längst nicht die Suggestivität und Ausdruckskraft, zu der Krigul imstande ist, wenn er wie in seinem Masing-Zyklus die Musik einfach nur für sich selbst sprechen lässt. Was in Aber schau immer nach oben künstlerisch geformt ist, wird hier viel zu direkt kommuniziert.
Fabelhafte Interpretationen, exzellenter Klang
Nichtsdestotrotz: wir erleben hier einen grundsätzlich sehr fähigen, talentierten Komponisten, und misst man das Album an seinen Glanzpunkten, dann muss man festhalten, dass Krigul mit seinem Masing-Zyklus ein echtes kleines Meisterwerk gelungen ist, das den Kauf der CD bereits alleine rechtfertigt. Die Interpretationen und die sängerische Leistung des Estnischen Philharmonischen Kammerchors sind fabelhaft, die Tontechnik exzellent. Das Beiheft informiert solide, mutet aber stellenweise etwas arg quasiphilosophisch-mystifizierend an.
Holger Sambale [06.09.2022]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Ülo Krigul | ||
1 | Vesi ise für Chor und Electronics | 00:14:02 |
2 | And the Sea Arose für Chor und Streicherensemble | 00:13:42 |
3 | Aga vaata aina üles für Chor a cappella | 00:24:04 |
9 | liquid turns für Chor und Electronics | 00:13:03 |
Interpreten der Einspielung
- Estonian Philharmonic Chamber Choir (Chor)
- Tallinn Chamber Orchestra (Orchester)
- Kaspars Putniņš (Dirigent)