Alexander Gadjiev
A. & N. Tcherepnin, Prokofiev
CAvi-music 8553494
1 CD • 19min • 2021
29.06.2022
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Spätestens seit dem zweiten Platz beim letztjährigen 18. Chopin-Wettbewerb darf der junge Pianist Alexander Gadjiev, Schüler von Pavel Gililov und Eldar Nebolsin, als eine international bekannte Größe bezeichnet werden. Auf seinem neuen Album, seinem mittlerweile vierten (und ersten beim Label CAvi), widmet er sich ganz russischer Musik, und zwar durchgängig im Miniaturformat. In nicht weniger als 39 Tracks präsentiert er neben Prokofjew auch deutlich weniger Bekanntes aus der Musikerfamilie Tscherepnin (seit 1920 im französischen bzw. später auch amerikanischen Exil ansässig).
Exorbitantes Klavierspiel mit breitem Spektrum an Klangfarben
Gadjievs pianistische Fähigkeiten, die Differenziertheit seines Anschlags, das ihm zur Verfügung stehende Spektrum von Klangfarben, aber auch sein Wille, die Musik im Detail zu gestalten, sind exorbitant. So können seine Aufnahmen der Werke der beiden Tscherepnins uneingeschränkt als Referenzen gelten. Von Nikolai Tscherepnin, dem „Stammvater“ der Musikerfamilie, spielt Gadjiev dabei die etwa 1915 entstandenen Sechs musikalischen Illustrationen zu Puschkins „Märchen vom Fischer und dem Fisch“ op. 41. Tscherepnin senior war ein vielseitig interessierter Komponist, in dessen Schaffen sich zahlreiche Einflüsse von der russischen Schule bis hin zu zeitgenössischer Musik wiederfinden. Im vorliegenden Werk ist der Bezug zu Mussorgskis Bildern einer Ausstellung zum Teil recht deutlich (Gnomus in Nr. 3, die Promenaden in Nr. 4, Bydlo in Nr. 5), aber das Werk zeigt auch einmal mehr die große Bedeutung, die Tscherepnin (in Sankt Petersburg schon früh als Bewunderer des Impressionismus bekannt) der Klangfarbe zumaß. In Gadjiev findet diese Musik einen Interpreten, der diese Facetten vorzüglich herauszuarbeiten und zu gestalten vermag, Nuancen nachhört und fein zu differenzieren versteht. Der (zweifelsohne verdienstvollen) Vergleichsaufnahme von David Witten (Toccata) ist Gadjievs Neueinspielung deutlich überlegen.
Expressive Vielfalt auf engem Raum
Ganz so extrem, wie es das Beiheft in Form eines Interviews suggeriert, ist der stilistische Unterschied zwischen Nikolai und seinem Sohn Alexander Tscherepnin nicht (man höre etwa Tscherepnin seniors Primitifs, die Andrea Vivanet unlängst auf einem konzeptuell mit Gadjievs neuer CD eng verwandtem Album eingespielt hat). Nichtsdestotrotz: insgesamt ist Tscherepnin junior natürlich ohne Zweifel ein Komponist des 20. Jahrhunderts, auch in seinen frühen Quatre Préludes Nostalgiques, hinter denen sich ein deutlich herberes Werk verbirgt als es der Titel vielleicht nahelegt. Die düsteren Seufzer dieser Musik realisiert Gadjiev ebenso meisterhaft wie den bunten Reigen der Acht Klavierstücke op. 88, wunderbar zart in der fein ausgehörten Rêverie, geradezu explosiv, ja besessen dann im neunten der Zwölf Präludien op. 85 (von denen Gadjiev zwei ausgewählt hat). Einige dieser Stücke existieren auch in Aufnahmen mit Tscherepnin selbst am Klavier; Gadjiev erreicht dabei eine ähnliche Intensität wie der Komponist selbst; das Feuerwerk, das er in einigen der schnelleren Stücke (op. 88 Nr. 9) abbrennt, ist stupend.
Akribische Arbeit an Details
Weitaus bekannter sind selbstredend Sergei Prokofjews Fünf Sarkasmen (deren Nr. 3 übrigens in Alexander Tscherepnins op. 88 Nr. 8 ihre deutlichen Spuren hinterlassen hat) und die Visions fugitives, von denen Gadjiev 14 ausgewählt hat. Im einleitenden Tempestuoso der Sarkasmen betont Gadjiev insbesondere den Vortrieb, den Impetus der Musik und versteht auch das Piano in T. 13 nur bedingt als Moment des Innehaltens; sehr schön durchhörbar dann die polyphonen Strukturen in As-Dur einen Augenblick später. So eindrucksvoll er Steigerungen und Höhepunkte wie die Feroce-Passagen im zweiten Stück auch herausarbeitet, behält er doch stets die Kontrolle und kann auch das Irresoluto des Andantinos im fünften Stück vorzüglich und mit feinen Abstufungen zur Geltung bringen. Will man kritisieren, dann auf sehr hohem Niveau: in den Visions fugitives etwa arbeitet Gadjiev extrem detailliert, mit etlichen kleineren Rubati und Stockungen. Im Vergleich zu Größen wie Richter oder Gilels geht dieser Fokus auf dem Moment aber mitunter ein wenig zu Lasten der Linie, der stringenten Gestaltung dieser Miniaturen als Erzählungen auf kürzestem Raum. Natürlich handelt es sich hierbei um Schattierungen, und bis zu einem gewissen Grade auch um eine Frage des Geschmacks.
Exzellentes Album mit schlüssiger Dramaturgie
Bei der Anordnung der Stücke auf dem Album hat sich Gadjiev sehr bewusst für einen großen Bogen von Prokofjews Sarkasmen als „Urknall“ bis hin zur ruhig-fließenden Melancholie des Endes von Nikolai Tscherepnins Puschkin-Illustrationen entschieden; die Stücke dazwischen sind so angeordnet, dass sich eine schlüssige Dramaturgie und sinnvolle Übergänge ergeben. In der Totalen ein Album, das einen exzellenten jungen Pianisten und Musiker mit einer spannenden Repertoireauswahl erleben lässt (und somit mindestens doppelten Grund zum Kauf liefert).
Holger Sambale [29.06.2022]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Sergej Prokofjew | ||
1 | Sarkasmen op. 17 | 00:11:14 |
Alexander Tscherepnin | ||
6 | Medition op. 88 Nr. 1 | 00:02:54 |
7 | Intermezzo op. 88 Nr. 2 | 00:01:08 |
8 | Rêverie op. 88 Nr. 3 | 00:02:37 |
9 | Impromptu op. 88 Nr. 4 | 00:01:15 |
10 | Invocation op. 88 Nr. 5 | 00:02:50 |
11 | Chase op. 88 Nr. 6 | 00:01:33 |
12 | Étude op. 88 Nr. 7 | 00:00:33 |
13 | Burlesque op. 88 Nr. 8 | 00:02:16 |
14 | Prélude op. 85 Nr. 1 | 00:03:14 |
15 | Prélude op. 85 Nr. 9 | 00:01:32 |
16 | Prélude Nostalgique op. 23 Nr. 1 | 00:02:46 |
17 | Prélude Nostalgique op. 23 Nr. 2 | 00:00:44 |
18 | Prélude Nostalgique op. 23 Nr. 3 | 00:00:46 |
19 | Prélude Nostalgique op. 23 Nr. 4 | 00:03:15 |
Sergej Prokofjew | ||
20 | Visions fugitives op. 22 Nr. 1 Lentamente | 00:01:10 |
21 | Visions fugitives op. 22 Nr. 2 Andante | 00:01:17 |
22 | Visions fugitives op. 22 Nr. 3 Allegretto | 00:00:55 |
23 | Visions fugitives op. 22 Nr. 4 Animato | 00:00:57 |
24 | Visions fugitives op. 22 Nr. 7 Pittoresco (Arpa) | 00:01:57 |
25 | Visions fugitives op. 22 Nr. 9 Allegretto tranquillo | 00:01:11 |
26 | Visions fugitives op. 22 Nr. 11 Con vivacità | 00:01:03 |
27 | Visions fugitives op. 22 Nr. 12 Assai moderato | 00:01:13 |
28 | Visions fugitives op. 22 Nr. 14 Feroce | 00:00:56 |
29 | Visions fugitives op. 22 Nr. 15 Inquieto | 00:00:45 |
30 | Visions fugitives op. 22 Nr. 16 Dolente | 00:02:05 |
31 | Visions fugitives op. 22 Nr. 17 Poetico | 00:01:21 |
32 | Visions fugitives op. 22 Nr. 18 Con una dolce lentezza | 00:01:22 |
33 | Visions fugitives op. 22 Nr. 20 Lento irrealmente | 00:01:56 |
Nikolai Tscherepnin | ||
34 | Musical Illustrations to Alexander Pushkin's Tale of the fischerman and the Fish op. 41 | 00:18:36 |
Interpreten der Einspielung
- Alexander Gadjiev (Klavier)