Domenico Scarlatti
Complete piano sonatas Volume 7
Christoph Ullrich
Tacet 271
2 CD • 2h 20min • 2021
14.04.2022
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Vergleichsweise langsam kommt Christoph Ullrich mit seinem Projekt voran, alle Klaviersonaten von Domenico Scarlatti einzuspielen. Seit dem Beginn der Sitzungen 2011 sind insgesamt 14 CDs erschienen; mit den 30 Sonaten K. 236 – 265 der nun vorliegenden Folge Nr. 7 ist damit nach 11 Jahren noch nicht einmal die Hälfte des Sonaten-Kosmos´ erkundet. Dazu ist Christoph Ullrich zu gratulieren. Natürlich hat der erfahrene Pianist, bald Mitte sechzig, bei diesen Werken keine technischen Schwierigkeiten zu überwinden und könnte somit schon längst fertig sein. Manche Kollegin oder mancher Kollege wäre auch sicherlich beherzter vorgegangen und stünde bereits mitten im Gesamtwerk Carl Philipp Emanuel Bachs oder so.
Zeit zu reifen
Christoph Ullrich aber gönnt sich eine gewisse Reifezeit. Offensichtlich kontempliert er über die einzelnen Stücke, dringt in sie ein, lässt sie gleichsam sacken, ohne bereits auf die nächste Aufnahmesitzung zu schielen. Erst beim wiederholten Hören zumindest ausgewählter Sonaten offenbart sich diese Durchdachtheit. Abgesehen von den Tempovorzeichnungen weisen die Partituren keine Ausführungsanweisungen auf. Würde man die immense Spielphantasie Ullrichs spaßeshalber in die Texte übertragen, wären die Blätter so übersät, dass man die Noten kaum mehr sehen würde. Ein Beispiel ist die Sonate G-Dur K. 240, die wild durch entfernteste Tonarten moduliert, während die gleichbleibende Begleitung sozusagen letzten Halt gewährt. Es ist faszinierend zu hören, wie Ullrich das begleitende Tuckern ständig anders einfärbt, mal spielerisch leicht tupft, mal beunruhigend eindringlich stanzt, mal kalt motorisch laufen lässt.
Spielphantasie
Im Beiheft berichtet der Pianist, dass ihm während der Vorbereitung auf diese Folge (übrigens in der pandemiebedingten Isolation) Bilder und kleine Geschichten zu den einzelnen Stücken einfielen. Ob man nun in der Sonate f-moll K. 239 tatsächlich ebenfalls ein „Breughelsches Straßenbild“ imaginieren kann, „in dem spielende Kinder herumtoben“, ist ein interessantes Spiel für den Hörer; der Rezensent hatte andere Assoziationen, während Ullrichs Interpretation der Sonate B-Dur K. 248 als gleichsam 200 Jahre zu früh kommender „Ragtime“ unmittelbar einleuchtet. Auch Ullrichs Eindruck, im vollkommen erratischen Mittelteil der Sonate Es-Dur K. 253 würden „Signale von fremden Galaxien empfangen“, trifft es auf den Punkt.
Wichtiger als der Nachvollzug konkreter Bildhaftigkeit aber ist, dass Ullrich für jedes der Stücke eine Idee, eine Farben- und Bewegungspalette ausbildet, die sich in der Anschlagsvielfalt, in Dynamik und Agogik konkret äußert, sich interpretierend festlegt. Er reflektiert jeden einzelnen Augenblick und vollzieht in seinem Spiel jede einzelne Wendung mit, auch, wenn das wie in der Sonate K. 240 sogar taktweise geschieht.
Komplexes Changieren
Diese mitteilungsfähige Bildphantasie ist jedoch nur eine Schicht von Ullrichs Reflexionsniveau. Die andere ist schwerer zu orten, weil sie gerade in der Zurückhaltung liegt. Leicht wäre es, etwa die aufgeregten Steigerungen in K. 239 steil anzulegen oder das unerhörte harmonische Entgleisen in der Sonate G-Dur K. 260 modernistisch zu übertreiben, kurz: das Extrem zu suchen und damit eine starke Hörerfahrung zu sichern. Doch bei aller Experimentierfreude Domenico Scarlattis wäre das dem ästhetischen Denken des 18. Jahrhunderts fremd, an dessen Ende Immanuel Kant noch einmal für die gesamte Epoche klassische Allgemeinheit einfordert: Die genialische Phantasie darf nicht nach Belieben ausschweifen, nicht zuletzt, weil sich allzu starke Effekte schnell abnutzen. Dagegen höre man Christoph Ullrichs Deutung der Sonate cis-moll K. 246, in der die experimentelle Vielfalt der harmonischen Stufen betont lakonisch nachvollzogen wird – und dadurch das Understatement umso aufreizender wirkt. Ein solches komplexes Changieren zwischen avantgardistischer Experimentierfreude und klassischer Mitteilungsfähigkeit ist diesen besonderen Werken angemessener als jeder historische Positivismus à la „Wie phrasiert man korrekt?“ oder „Cembalo oder Klavier?“. Auf die nächste Folge von Christoph Ullrichs Scarlatti-Projekt freut man sich umso mehr, je desto ausgiebigere Reifezeit er sich gönnt.
Prof. Michael B. Weiß [14.04.2022]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Domenico Scarlatti | ||
1 | Klaviersonate D-Dur K 236 L 161 | 00:04:04 |
2 | Klaviersonate D-Dur K 237 L 308 | 00:03:10 |
3 | Klaviersonate f-Moll K 238 L 27 | 00:04:20 |
4 | Klaviersonate f-Moll K 239 L 281 | 00:03:36 |
5 | Klaviersonate G-Dur K 340 L 529 | 00:08:26 |
6 | Klaviersonate G-Dur K 241 L 180 | 00:02:40 |
7 | Klaviersonate C-Dur K 242 L 202 | 00:04:37 |
8 | Klaviersonate C-Dur K 243 L 353 | 00:03:13 |
9 | Klaviersonate H-Dur K 244 L 348 | 00:04:06 |
10 | Klaviersonate H-Dur K 245 L 450 | 00:03:56 |
11 | Klaviersonate cis-Moll K 246 L 260 | 00:04:56 |
12 | Klaviersonate cis-Moll K 247 L 256 | 00:04:41 |
13 | Klaviersonate B-Dur K 248 L 535 | 00:04:46 |
14 | Klaviersonate B-Dur K 249 L 39 | 00:05:01 |
15 | Klaviersonate C-Dur K 250 L 174 | 00:05:11 |
16 | Klaviersonate C-Dur K 251 L 305 | 00:03:12 |
CD/SACD 2 | ||
1 | Klaviersonate Es-Dur K 252 L 159 | 00:03:42 |
2 | Klaviersonate Es-Dur K 253 L 320 | 00:03:24 |
3 | Klaviersonate c-Moll K 254 L 219 | 00:04:01 |
4 | Klaviersonate C-Dur K 255 L 439 | 00:03:56 |
5 | Klaviersonate F-Dur K 256 L 228 | 00:07:55 |
6 | Klaviersonate F-Dur K 257 L 169 | 00:03:34 |
7 | Klaviersonate D-Dur K 258 L 178 | 00:07:54 |
8 | Klaviersonate G-Dur K 259 L 103 | 00:04:42 |
9 | Klaviersonate G-Dur K 260 L 124 | 00:06:25 |
10 | Klaviersonate H-Dur K 261 L 148 | 00:05:13 |
11 | Klaviersonate H-Dur K 262 L 446 | 00:04:15 |
12 | Klaviersonate e-Moll K 263 L 321 | 00:05:52 |
13 | Klaviersonate E-Dur K 264 L 466 | 00:06:00 |
14 | Klaviersonate a-Moll K 265 L 532 | 00:02:36 |
Interpreten der Einspielung
- Christoph Ullrich (Klavier)