Solitude
Haydn Piano Works II
Markus Becker
CAvi-music 8553031
1 CD • 70min • 2020
09.04.2021
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Auch wenn es schon etliche Gesamtaufnahmen der Klaviersonaten von Joseph Haydn gibt, so bekommen sie doch nicht die Aufmerksamkeit, Bewunderung und Zuwendung, die sie verdienen. Markus Becker lässt es in dieser Aufnahme an Aufmerksamkeit, Bewunderung und liebevoller Zuwendung nicht fehlen. Er hat eine eigenwillige Zusammenstellung gewählt: Es sind meist Werke im Moll-Ton, die alles in allem beim Anhören eine verinnerlichte Atmosphäre erzeugen. Deswegen auch der Titel „Solitude‟ – Einsamkeit, In-sich-hinein-horchen. Es ist Musik ohne Sensationen, ohne Gefühlsexplosionen, ihr fehlt der Zug ins Große, Weltbedeutende und damit Weltdeutende, ohne das Bekenntnishafte. Dafür ist es eine Musik zum genauen Hinhören, eine Musik für das Gefühl des kleinen Glücks. Diese Musik wirkt wie ein ungemein geistreiches Gespräch im geschützten Bereich und im Höflichkeitsrahmen: Jeder lässt den anderen ausreden, will ihn nicht überreden.
Überraschung und Vielfalt im Intimen
Markus Becker widmet dieser Musik die gleiche Aufmerksamkeit und geradezu zärtliche Hingabe wie einer Beethoven-Sonate oder einem Chopin-Scherzo. Und dann entdeckt man mit ihm das reiche Farbenspektrum, die vielen Modulationsüberraschungen und das wendungs- und finessenreiche Spiel: Vielfalt im Intimen. Becker nutzt dabei alle Klangraffinessen eines Steinways, ohne diesen dynamisch voll auszureizen. Bewusste Phrasierungen, retardierende Verdeutlichungen und Hervorhebungen, Herausstellen der Zweistimmigkeit machen alles sehr lebendig, zeigen, wie ein Motiv aus dem anderen erwächst, sich entfaltet und verzweigt, und zeigen damit, welch großer Motiventwicklungs- und Motivauswertungskünstler Haydn war.
In den beiden Variationswerken zeigt Becker Haydns schier unerschöpflichen Einfallsreichtum, ob wehmütig singend oder übermütig trillernd, ob charakterverändernd oder figurativ auflösend, ein Einfallsreichtum, der hier wie ein Lehrbuch der Variationskunst wirkt.
Ahnt Haydn die Romantik voraus?
Becker hat auch keine Scheu vor der Ausbreitung von Gefühlen: Wo Rudolf Buchbinder (in seiner Gesamtaufnahme aller Haydn-Sonaten 2018 bei Warner Classics) über den wehmütigen Beginn der Klaviersonate c-Moll Hob. VVI:20 elegant drüberspielt, versenkt sich Becker gleich anfangs in die Wehmut des Motivs, entdeckt eine Brahms-Nähe, entdeckt weiterhin „Melancholie, Humor und Ambivalenzen“, wie er im Booklet schreibt. Überhaupt scheint er hervorheben zu wollen, wie Haydn die Romantik schon vorausahnt. So hört man eine Fülle von Klangnuancen, Farbschattierungen, erregenden Bassläufen, Verzierungsverspieltheiten, die dramatisierend wirken, Verschiedenheiten im scheinbaren Gleichklang.
Der große Sendesaal des NDR ist der richtige Rahmen, in dem sich diese intime Musik groß entfalten kann. Das Klangbild ist lebendig klar.
Anmerkung zum Schluss: Der Vorzug der Programmzusammenstellung ist gleichzeitig ihre Schwäche. Der vorherrschende Moll-Ton der Verinnerlichung führt zum Gleichklang der Stimmung. Er zeigt Haydn von nur einer Seite. Man muss die andere CD von Markus Becker dagegenhalten, die viele fröhlich-wirbelnde Finali präsentiert.
Rainer W. Janka [09.04.2021]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Joseph Haydn | ||
1 | Klaviersonate Nr. 33 c-Moll Hob. XVI:20 | 00:25:14 |
4 | Arietta mit zwölf Variationen Es-Dur Hob. XVII:3 | 00:16:45 |
5 | Klaviersonate g-Moll Hob. XVI:44 | 00:13:24 |
7 | Andante con variazioni f-Moll Hob. XVII:6 | 00:14:46 |
Interpreten der Einspielung
- Markus Becker (Klavier)