Reimagining Opera
DiG Digressione DCTT96
1 CD • 55min • 2014, 2020
27.12.2020
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Die Grundidee, klassische Musik mit Jazz zu konfrontieren und zu verbinden, ist nicht neu, sondern hat eine hundertjährige Tradition. Doch im Falle der ganz auf die Kantilene und den Belcanto ausgerichteten italienischen Oper, dem „melodramma“, hat sie zumindest den Reiz des Ungewöhnlichen. Was kommt dabei heraus, wenn ein Instrument wie das Flügelhorn (das wie eine hohe Trompete klingt) die Rolle der Sänger übernimmt und von einem Jazzpianisten ordentlich eingeheizt bekommt? Dario Savino Doronzo und Pietro Gallo, noch junge Meister ihres Faches, haben mit eigenen Arrangements einen Versuch der Aneignung und Transformation unternommen und werden dabei in einigen Stücken von dem älteren französischen Kollegen Michel Godard auf dem Serpent (einem historischen Vorläufer der Tuba) unterstützt.
Meine Eindrücke beim Hören waren sehr gemischt. Gleich der erste Titel irritiert: Eine Ouvertüre zum Otello hat Giuseppe Verdi nie geschrieben, die Oper setzt nach 13 Takten Sturmmusik mit dem Chor ein. An keiner Stelle des neuneinhalbminütigen Stücks werden Erinnerungen an ein Thema oder Motiv aus der Oper wach. Auch vermittelt der eher behagliche Duktus der Musik, die zum Abhängen in einer Nachtbar zu passen scheint, nichts von der dramatischen Handlung des Werks. Im Booklet-Text erfährt man dann auch, dass es sich um eine Originalkomposition handelt, die von Shakespeares Othello inspiriert ist. Die Nennung von Verdis Namen auf dem Cover ist also irreführend. Bei den nachfolgenden Titeln werden dann die Vorbilder mehr oder weniger erkennbar, in fast traditioneller Weise paraphrasiert und gelegentlich selbständig weiterentwickelt.
Bedingt innovativ
Zu einer produktiven Reibung zwischen Oper und Jazz, zu einem „reimagining“, einer kreativen Neuinterpretation, kommt es dabei aber nicht wirklich. Das Ausmaß der Improvisation, wie sie für den Jazz typisch ist, kann man beim Hören nicht abschätzen, denn es klingt alles recht abgezirkelt, vorausgeplant wie bei klassischen Kompositionen. Aufgebrochen, verfremdet werden die Originale vor allem durch den Rhythmus, wobei sie hier keine moderne, gar avantgardistische Gewandung annehmen, sondern eher in Richtung U-Musik tendieren. Strapazierte Klassik-Hits wie Tommaso Giordanis „Caro mio ben“, aber auch Puccinis „Nessun dorma“ oder Mascagnis Cavalleria-Intermezzo klingen dabei süßlicher als gewohnt. Die nicht authentifizierte Pergolesi-Arie „Se tu m’ami“, von Alessandro Parisotti (1853-1913) in den Arie antiche neu gefasst (wenn nicht überhaupt von ihm frei erfunden), erscheint hier als eine Bearbeitung aus zweiter Hand.
Wiedergabe lässt keine Wünsche offen
Die Arie „Nel cor più non mi sento“ aus Paisiellos heute kaum noch gespielter Oper La Molinara war eine der populärsten Gesangsstücke des 18. Jahrhunderts und wurde später von Beethoven und Paganini phantasievoll variiert. Mit diesen historischen Vorgängern können es die beiden Arrangeure in puncto Imagination und Innovation nicht aufnehmen, doch ist diese Adaption in ihrem klassischen Formgefühl der gelungenste Titel des Albums. Als Bonus ist diesem eine freie Phantasie Michel Godards angefügt, „Fruccia d’ali“, inspiriert vom Schlussduett aus Monteverdis L’incoronazione di Poppea („Pur ti miro“), dessen bekanntestes Lied „Si dolce è’l tormento“ in Track 2 verarbeitet wurde. Ungeachtet meiner Einwände gegen die Arrangements und meines Zweifels am Sinn des ganzen Unternehmens habe ich das fabelhafte Spiel der Instrumentalisten sehr genossen, insbesondere den Klang- und Farbenreichtum bewundert, den Doronzo dem Flügelhorn abgewinnt.
Ekkehard Pluta [27.12.2020]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Giuseppe Verdi | ||
1 | Otello (Dramma lirico in quattro atti) | 00:09:31 |
Claudio Monteverdi | ||
2 | Si dolce è 'l tormento (Scherzi Musicali a voce sola) | 00:08:42 |
Alessandro Parisotti | ||
3 | Se tu m'ami | 00:06:47 |
Giacomo Puccini | ||
4 | Nessun dorma (3. Akt: Arie des Kalaf - aus: Turandot) | 00:06:29 |
Pietro Mascagni | ||
5 | Intermezzo (aus: Cavalleria Rusticana) | 00:05:24 |
Tommaso Giordani | ||
6 | Caro mio ben | 00:07:25 |
Giovanni Paisiello | ||
7 | Nel cor piu non mi sento (aus: La Molinara) | 00:06:00 |
Michel Godard | ||
8 | Fruccia d'ali | 00:04:18 |
Interpreten der Einspielung
- Dario Savino Doronzo (Flügelhorn)
- Pietro Gallo (Klavier)
- Michel Godard (Serpent)