Čiurlionis
The Sea, In the Forest, Kęstutis Overture
Ondine ODE 1344-2
1 CD • 59min • 2019
06.05.2020
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Wenn man von Mikalojus Konstantinas Čiurlionis spricht, muss man bedenken, dass das Schaffen dieses als Maler wie als Komponist hervorragend begabten litauischen Künstlers unvollendet und fragmentarisch ist. Unvollendet, da Čiurlionis in seinem 36. Jahr durch eine Lungenentzündung aus dem Leben gerissen wurde, als er gerade dabei war, sich von einer schweren schöpferischen Krise zu erholen; Fragment, da nach seinem Tode 1911 mehrere Kompositionen und Gemälde verloren gegangen sind. So sind, wie man im Beiheft der vorliegenden CD liest, von den zehn Orchesterwerken, die das Werkverzeichnis aufzählt – Čiurlionis war vor allem Klavierkomponist –, nur zwei in Form einer fertigen Partitur überliefert: die beiden Tondichtungen Im Walde und Das Meer.
Sympathische Talentproben
Allerdings konnte die Ouvertüre Kestutis (1902) für den Konzertsaal gerettet werden. Sie erklingt hier erstmals auf CD in der Rekonstruktion von Jurgis Juozapaitis, der den unvollständig erhaltenen Klavierauszug instrumentierte (wobei er sich auf briefliche Äußerungen des Komponisten stützen konnte) und die Lücken durch Takte eigener Komposition ausfüllte. Das Resultat kann man durchweg als geglückt bezeichnen. Weder wirkt Juozapaitis' Instrumentation unidiomatisch, noch lässt sich beim Hören bestimmen, welche Takte nicht originaler Čiurlionis sind. Es wäre wohl eine Erwähnung im Beiheft wert gewesen, dass es sich bei dem „Titelhelden“ um den letzten heidnischen Großfürsten Litauens handelt, der, nachdem er jahrzehntelang dem Deutschen Orden die Stirn geboten hatte, 1382 in einem Bürgerkrieg gegen den eigenen Neffen ums Leben kam. Falls dem Stück ein biographisches Programm zugrunde liegt, so hat es Čiurlionis ohne besondere Abweichungen von den Gepflogenheiten akademischer Sonatenkomposition vertont. Die Themen zeigen ihn als glänzenden Melodiker und der Aufbau ist grundsolide. Liest man freilich, dass Kestutis unter Aufsicht Carl Reineckes in Leipzig entstanden ist, wundert man sich nicht, wieso die Ouvertüre deutlich „konservatoristischer“ wirkt als die zuvor komponierte lyrische Tondichtung Im Walde, die in ihrer ruhigeren Entfaltung der musikalischen Ereignisse und ihren größer angelegten Verlaufsabschnitten, ebenso wie in der offensiveren Verwendung besonderer Harmonien einen persönlichen Stil des Autors deutlicher erkennen lässt. Wenn allerdings die große Steigerung am Ende der Einleitung, wie auch die entsprechende am Reprisenbeginn, nach dem erreichten Moll-Höhepunkt rasch in sich zusammensinkt, und der Ansatz zu spannungsvollerer Handlungsführung nicht weiter verfolgt wird, wird klar, dass der Komponist – bereits ein phantasievoller Instrumentationskünstler – in diesem Stück nicht alles einlöst, was er verspricht.
Symphonisches Meisterwerk
Nach diesen sympathischen Talentproben eines begabten, aber keineswegs frühvollendeten jungen Tonsetzers, steht Čiurlionis mit dem 1907 vollendeten Meer als fertiger Meister da. Während es in den beiden früheren Stücken eher als Schwäche erscheint, dass sie nie über ein mäßig bewegtes Tempo hinauskommen, findet der Komponist nun zum langen Atem des Symphonikers, der es ihm ermöglicht, aus der Ruhe heraus weit gespannte Verläufe – im wahrsten Sinne des Wortes „symphonische Wellen“ – zu entwickeln. Dabei findet sich kaum ein Takt ohne motivische Beziehung. Die ungemein farbenreiche Harmonik lässt in Verbindung mit der Instrumentation das Funkeln des Meeres im Sonnenlicht gleichermaßen erahnen wie seine dunklen Tiefen. Auch kann man nur loben, wie einfallsreich der Komponist nach dem mächtigen, orgeluntermalten Höhepunkt das bekannte Material in der Reprise weiteren Verwandlungen unterzieht, so dass die Spannung in diesem viertelstündigen Decrescendo mühelos gehalten wird. Angesichts der hier erreichten künstlerischen Höhe stimmt es traurig zu lesen, welche Symphonie- und Opernprojekte Čiurlionis nach dem Meer in Angriff nahm und nicht mehr ausführen konnte.
Restaurierte Originale
Modestas Pitrenas und das Litauische Nationalorchester leisten tüchtige Arbeit bei der Darbietung der Musik ihres großen Landsmannes. Für Čiurlionis-Freunde und die, die es werden wollen, ist diese CD aber nicht nur deshalb und wegen der Ersteinspielung der Kestutis-Ouvertüre unerlässlich, sondern auch, weil Im Walde und Das Meer hier in der vom Komponisten hinterlassenen Gestalt, ohne die Änderungen späterer Herausgeber, präsentiert werden. Zwar lässt sich nachvollziehen, warum Eduardas Balsys in seiner lange Zeit gebräuchlichen Bearbeitung des Meeres die zahlreichen Beckenschläge des Originals auf ein Minimum reduziert hat, denn das Becken führt – einzige Instrumentationsschwäche des Stückes – kein Eigenleben und unterstreicht stets nur bereits deutlich genug hörbare Rhythmen, doch hat Balsys – viel gravierender – auch einige besonders hoch brandende Wellen aus der Durchführung kommentarlos gestrichen, deren Wiedereinfügung unbedingt zu begrüßen ist.
Norbert Florian Schuck [06.05.2020]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Mikalojus Konstantinas Ciurlionis | ||
1 | Kęstutis (Sinfonische Ouvertüre) | 00:09:33 |
2 | In the Forest (Sinfonische Dichtung) | 00:17:15 |
3 | The Sea (Sinfonische Dichtung) | 00:32:24 |
Interpreten der Einspielung
- Lithuanian National Symphony Orchestra (Orchester)
- Modestas Pitrėnas (Dirigent)