Farinelli
Cecilia Bartoli
Decca 485 0214
1 CD • 76min • 2017, 2019
22.01.2020
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Der Mythos Farinelli, über die Jahrhunderte lebendig, erhielt mit dem Aufkommen und der Entwicklung der Countertenöre neue Nahrung. Wie ein echter Kastrat geklungen hat, darüber kann es trotz zahlreicher Berichte von Augen- und Ohrenzeugen nur Mutmaßungen geben. Die Falsettisten von heute, ob im Sopran- oder Altfach tätig, haben Annäherungen an diesen fernen Klang versucht. In Gérard Corbeaus Kultfilm Farinelli (1994) wurde dieser durch die elektronische Mischung der Stimmen des Countertenors Derek Lee Ragin und der Sopranistin Ewa Małas-Godlewska synthetisch hergestellt.
Cecilia Bartoli hat ihren eigenen Weg der Aneignung gefunden. Schon vor zehn Jahren hat sie sich in Zusammenarbeit mit Giovanni Antonini und dem Orchester Il Giardino Armonico der Kunst der Kastraten gewidmet (Sacrificium, Decca 475 9077). Jetzt legt sie mit dem gleichen Team gewissermaßen die Fortsetzung vor. Das Programm ist diesmal ganz auf die Komponisten zentriert, deren Werke auf Farinelli zugeschnitten waren und denen er sensationelle Erfolge ersang, die allerdings ihn und seine Meister nicht überdauerten. Die Bartoli ist nicht nur die Primadonna assoluta im Barock-Repertoire, sondern auch eine unermüdliche Musik-Archäologin, die uns eloquent vor Ohren führt, was für musikalische Potenzen im Schatten von Händel und Vivaldi gedeihen konnten. Farinellis Lehrer Nicola Porpora, der hier mit fünf Nummern vertreten ist, steht zu Recht im Zentrum des Programms, in dem neben Antonio Caldara auch weniger bekannte Maestri wie Geminiano Giacomelli und Farinellis Bruder Riccardo Broschi wieder lebendig werden. Auch Johann Adolph Hasse gehörte zu den Favoriten des Kastraten, der allerdings kaum die Rolle der Cleopatra gesungen haben dürfte.
Wechselbäder der Gefühle
In den elf Arien dieses Recitals geht es um die immer gleichen Opernthemen: Liebe, Eifersucht, Trennungs- und Abschiedsschmerz, Wut und Rache. Die Abfolge der Musiknummern gehorcht wie schon im ersten Album einer Dramaturgie, die den Hörer ständigen Wechselbädern der Gefühle aussetzt. Auf den furiosen Einstieg mit der Arie des Aci aus dem 2. Akt von Porporas Polifemo folgen Imeneos arkadisch entspannter Liebesgesang und Cleopatras heroische Herausforderung des Todes. Und so fort. Einen dramatischen Höhepunkt markiert die Rache-Arie „Si, traditor tu sei“ aus Broschis La Merope, in der die wütenden Attacken des Sängers von martialischem Trompetengeschmetter unterstützt werden. Versöhnlich endet das Album mit der geradezu himmlisch schönen Arie „Alto Giove“, die Farinelli dem kranken spanischen König immer wieder und mit immer neuen Variationen vorsingen musste.
Man hat dem großen Kastraten nicht nur schier unerschöpflichen Atem und eine feuerwerksartige Koloraturtechnik nachgerühmt, sondern auch die Fähigkeit, jenseits dieser „Zirkusstücke“ einfach und wahrhaftig zu sein. In beider Hinsicht ist Cecilia Bartoli eine würdige Nachfolgerin. Die Stimme hat in den zurückliegenden Jahren nichts von ihrer Klangfülle, ihrem Farbenreichtum und ihrer Flexibilität eingebüßt, sie surft durch die Register von orgelnden contralto-Tönen bis zu tirilierenden Sopranhöhen, lässt mit ihren Trillern und Koloraturen beim Zuhören den Atem stocken, aber – und das ist viel wichtiger – die Sängerin bringt alle Stücke auch auf den emotionalen Punkt, ob theatralisch exaltiert, konzentriert verinnerlicht oder einfach zärtlich.
Singuläre Hörerfahrung
Das ist eine singuläre Hörerfahrung. Und in Giovanni Antonini und seinen Instrumentalisten hat die Bartoli die idealen und bestens auf sie eingestimmten Partner, die sie eben nicht nur begleiten, sondern auch befeuern. Die Musik steht ständig unter Strom. Im letzten Stück, das zwei Jahre früher aufgenommen wurde, spielen Les Musiciens du Prince-Monaco unter Gianluca Capuano. Das bilderreiche Booklet enthält zwei lesenswerte Essays, eine illustrierte Zeittafel und die Arientexte in vier Sprachen. Über das trashige Cover-Foto, das im Buch variiert wird und mehr an Conchita Wurst als an Farinelli denken lässt, kann man allerdings streiten.
Ekkehard Pluta [22.01.2020]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Nicola Antonio Porpora | ||
1 | Nell'attendere il mio bene (aus: Polifemo) | 00:05:11 |
2 | Vaghi amori, grazie amante (aus: La festa d'Imeneo) | 00:09:20 |
Johann Adolf Hasse | ||
3 | Morte col fiero aspetto (aus: Marc' Antonio e Cleopatra) | 00:03:37 |
Nicola Antonio Porpora | ||
4 | Lontan dal solo e caro ... Lusingato dalla speme (aus: Polifemo) | 00:08:18 |
Riccardo Broschi | ||
5 | Chi non sente al mio dolore (aus: La Merope) | 00:08:00 |
Nicola Antonio Porpora | ||
6 | Come nave in ria tempesta (aus: Semiramide, Regina dell'Assiria) | 00:05:04 |
Geminiano Giacomelli | ||
7 | Mancare o Dio mi sento (aus: Adriano in Siria) | 00:09:37 |
Riccardo Broschi | ||
8 | Sì, traditor tu sei (aus: La Merope) | 00:06:04 |
Antonio Caldara | ||
9 | Questi al cor fin'ora ignoti (aus: La morte d'Abel figura di quella del nostro Redentore) | 00:05:03 |
Johann Adolf Hasse | ||
10 | Signor, la tua speranza ... A Dio, trono, impero a Dio (aus: Marc' Antonio e Cleopatra) | 00:05:53 |
Nicola Antonio Porpora | ||
11 | Alto Giove (aus: Polifemo) | 00:09:22 |
Interpreten der Einspielung
- Cecilia Bartoli (Sopran)
- Il Giardino Armonico (Orchester)
- Giovanni Antonini (Dirigent)