Johann Sebastian Bach
Víkingur Ólafsson

DG 483 5022
1 CD • 77min • 2018
07.02.2019
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Ein neuer Pianisten-Stern am Bach-Himmel, von einem Marktführer präsentiert, der künstlerisch schon lange nicht mehr verlässlich ist, sondern uns hemmungslos Max Richter und Konsorten aufdrängt – da ist Skepsis angesagt, und es steht zu befürchten, es handle sich um poliertes Mittelmaß. Aber nein, hier wird kein weiterer Hype in Stellung gebracht: Víkingur Ólafsson ist besser als die meisten Bach-Pianisten der Geschichte zusammen, er kann sich durchaus in einem Gefilde bewegen, das Murray Perahia heute allein vorbehalten schien.
Ólafsson ist zunächst technisch absolut makellos und bleibt immer, auch in sehr kräftigen, markigen Momenten, dem kultivierten, fein gerundeten Ton treu – das Klavier gerät ihm nie zum Schlagzeug. Dazu gehört auch die vollendete Balance des Klangs durch alle verwendeten Register hindurch in Akkordik wie in komplementärer Stimmführung. Von Tempolimits muss Ólafsson nichts halten, denn auch bei Höchstgeschwindigkeit gibt es keine Mühen und Stockungen, keinen Pfusch und keine Unfälle. Alles läuft glasklar ab, dabei durchdrungen von intensiver, niemals sentimental verdorbener Empfindung. Und alles ist immerzu im Fluss, es braucht keine vorhangartigen Zäsuren, um die Form bieder zu verdeutlichen – aber es gibt schon gelegentlich Zäsuren, um etwas zu unterstreichen, und auch wenn diese nicht nötig sind, so gelingen sie doch stets mit ausgezeichnetem Geschmack und geraten nie holprig.
Ólafsson ist ein neuer Großmeister der kontrapunktischen Gestaltung, und er muss dafür so gar nicht zu vergröbernden Mitteln greifen – er hört es einfach durch, und das lässt er uns – in natürlichst erscheinendem Fluss – erfahren. Außerdem erwischt er exzellent die kontrastierenden Grundcharaktere der vielen kleinen Stücke auf diesem wunderbaren Album, das dramaturgisch als Kunstwerk zum Durchhören besteht. Es gibt keineswegs nur Bach im Original, sondern eben auch Bearbeitungen von Ferruccio Busoni, Alexander Siloti, Wilhelm Kempff, August Stradal, Sergej Rachmaninoff (die Gavotte aus der E-Dur-Partita für Violine solo) und Ólafsson selbst. Sei es inniges Choralvorspiel, perlendes Präludium, hochkonzentriert ausphrasierte Fuge, Invention oder Sinfonia, sei es Bachs herrlich ornamentierte Klaviertranskription des c-Moll-Oboenkonzerts von Alessandro Marcello mit jenem jenseitig innig-gelassenen Adagio, sei es die Vielfalt der ein Thema umrankenden Charaktervariationen in der so selten gegebenen Aria variata a-Moll BWV 989 – alles ist eine einzige Freude fürs anspruchsvolle Ohr ebenso wie fürs anspruchslose, denn wir haben auch nie das Gefühl, Ólafsson trage irgendeine Form von Dünkel spazieren, während er uns den Meister der Meister serviert. Wir können ganz sicher sein – ganz unzweifelhaft, wenn das Schicksal nicht partout etwas anderes parat halten sollte –, dass Víkingur Ólafsson einer der legendären, ganz großen Pianisten und Musiker unserer Zeit ist und sein wird. Was ich ihm hier noch zusätzlich wünschen möchte, ist ein tieferes Ausloten des harmonischen Dramas der Werke, seien sie klein oder groß, es hat damit nichts zu tun, macht keinen Unterschied. Da ist noch viel mehr Kontur und Tiefe möglich, noch viel mehr Individuum der jeweiligen Werke zu entdecken. Aber dafür muss er intensivst forschen, denn es gibt heute fast niemanden, an dem er sich auch nur rudimentär orientieren könnte. Aber ich bin sicher, auch dazu wäre er in der Lage, Pionier der authentischen Einfühlung der er ist.
Fast überflüssig, zu erwähnen, dass der Aufnahmeklang die Kunst Ólafssons so umfassend einfängt, wie dies nur möglich scheint. Und wo auch noch der geistreiche Booklettext vom Künstler selbst stammt, kann dieses sensationell schöne und fesselnde Album nur jedermann uneingeschränkt empfohlen werden. Möge es zu dem Kult werden, den es potentiell in sich trägt.
Christoph Schlüren [07.02.2019]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Johann Sebastian Bach | ||
1 | Präludium G-Dur BWV 902 | 00:03:26 |
2 | Nun freut euch, lieben Christen g'mein G-Dur BWV 734 (Choralvorspiel - Bearb. für Klavier) | 00:01:51 |
3 | Präludium und Fuge Nr. 10 e-Moll BWV 855 (aus: Das Wohltemperierte Klavier Buch I BWV 846-869) | 00:03:20 |
5 | Triosonate Nr. 4 e-Moll BWV 528 (2. Adagio) | 00:05:27 |
6 | Präludium und Fuge Nr. 5 D-Dur BWV 850 (aus: Das Wohltemperierte Klavier Buch I BWV 846-869) | 00:02:49 |
8 | Nun komm, der Heiden Heiland BWV 659 (Choralvorspiel - Bearb. für Klavier) | 00:05:04 |
9 | Präludium und Fuge Nr. 2 c-Moll BWV 847 (aus: Das Wohltemperierte Klavier Buch I BWV 846-869) | 00:03:02 |
11 | Widerstehe doch der Sünde BWV 54 (Aria) | 00:04:26 |
12 | Aria variata alla maniera italiana a-Moll BWV 989 | 00:14:43 |
24 | Invention Nr. 12 A-Dur BWV 783 | 00:01:19 |
25 | Sinfonia Nr. 12 A-Dur BWV 798 | 00:01:24 |
26 | Gavotte en Rondeau (aus der Partita Nr. 3 E-Dur BWV 1006 für Violine solo; Bearb. für Klavier) | 00:02:48 |
27 | Präludium h-Moll BWV 855a | 00:03:00 |
28 | Sinfonia Nr. 15 h-Moll BWV 801 | 00:01:19 |
29 | Invention Nr. 15 h-Moll BWV 786 | 00:01:12 |
30 | Concerto d-Moll BWV 974 (nach Alessandro Marcello) | 00:09:58 |
33 | Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ BWV 639 (Choralvorspiel - Bearb. für Klavier) | 00:03:08 |
34 | Fantasie und Fuge a-Moll BWV 904 | 00:09:09 |
Interpreten der Einspielung
- Vikingur Heioar Olafsson (Klavier)