Erwartung
Lieder
Kaleidos KAL 6342-2
1 CD • 57min • 2018
09.11.2018
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Georg Solti hat einmal gesagt, es gebe keine vergessene Musik, und meinte damit, eine solche Musik sei zu Recht vergessen. Mit Verlaub, hier irrt Solti. Zumindest wenn es um die Lieder von Anton Urspruch geht. Der wurde 1850 in Frankfurt geboren, wurde Schüler von Franz Lachner und Joachim Raff, ging als Schüler von Franz Liszt nach Weimar, kehrte nach Frankfurt zurück, wurde 1878 am neu gegründeten Hoch’schen Konservatorium Lehrer für Klavier und Komposition, später auch am Raff-Konservatorium, und starb 1907 in Frankfurt.
Circa 50 Lieder hat Urspruch komponiert. Veronica Kircher, Enkelin von Anton Urspruch, ist unermüdlich dabei, die Werke ihres Großvaters wieder bekannt zu machen, vor 19 Jahren hat sie schon eine Lieder-CD mit Heike Hallaschka und dem Pianisten Michael Biehl initiiert, die aber vergriffen zu sein scheint. Die vorliegende CD ist in Zusammenarbeit mit dem Hessischen Rundfunk entstanden. Als „world premiere recording“ bezeichnet das Booklet Urspruchs Rosenlieder op. 5, die in der Tat nicht auf der erwähnten älteren CD zu finden sind.
Fein gearbeitet ist Leise zieht durch mein Gemüt aus diesen Rosenliedern, das sich nicht neben der Version von Mendelssohn Bartholdy verstecken muss: Es beginnt melancholisch–verträumt und öffnet sich in der zweiten Strophe mit dem Wechsel nach Dur „ins Weite“. Liebesjauchzend ist Von rothen, rothen Röslein auf einen Text von Wilhelm Osterwald, abwechslungsreich im Sinne des Textes von Heinrich Heine ist Der Schmetterling ist in die Rose verliebt op. 5, Nr. 5. Und spätestens da muss man von der Sängerin sprechen: Normalerweise ist es anstrengend, einer Sopranistin stundenlang zuzuhören – nicht aber, wenn diese Sängerin Sibylla Rubens heißt. Deren feiner Sopran ist wendig und munter wie der Schmetterling in diesem Lied und schwärmerisch aufblühend wie die Nachtigall, in die sich die Rose im Gedicht verliebt, ist farbenreich, unangestrengt und natürlich fließend und leidenschaftlich strömend. Die Artikulation ist äußerst klar, man versteht jedes Wort, die Konsonanten werden nicht, wie so oft bei Sopranistinnen, in der Gesangslinie aufgelöst. Die Höhen werden, auch in leidenschaftlichen Aufschwüngen, leicht erreicht, nichts wird spitz.
Die Acht Lieder op.23 stammen aus der späteren Zeit, als Urspruch sich wieder dem Lied zuwendet. Mit dem Abendständchen wagt sich Urspruch an einen Vergleich mit Brahms – und besteht in diesem Vergleich mit einer ganz eigenen Gestaltung: Das Klaviervorspiel imitiert in etwa eine Gitarre bei einem Ständchen (auch wenn im Gedicht von Brentano eine Flöte klagt) und stimmt in der zweiten Strophe einen innigen Gesang an, den die Singstimme ins Sehnsüchtige ausweitet. Und nun ist’s auch an der Zeit, vom Pianisten zu sprechen: Carl-Martin Buttgereit bereitet der Sängerin ein weiches Klangbett, wahrlich einen „weichen Pfühl“, wie in dem Nachtgesang von Goethe, wo das Klavier mit Tönen das „irdische Gewühle“ von den „ewigen Gefühlen“ trennt und schöne Klangwogen malt, die fast schon ins Ekstatische schwappen. In Goethes An den Mond gibt Urspruch jeder Strophe eine eigene charakteristische, textdeutende Färbung. Spätestens hier wird hörbar, was ein zeitgenössischer Rezensent zu Urspruch bemerkte: „Er zeigt insbesondere ein Streben nach melodischem Reiz und Fluss.“ Und weiter: „So macht er keine leeren Phrasen, wird nicht trivial, ist aber auch nicht langweilig oder pedantisch.“ So ist’s auch mit dieser CD.
So schön Sybilla Rubens auch singt: Unverständlich ist, warum Lieder, die eindeutig als Lieder eines Mannes gekennzeichnet sind, nicht auch von einer Männerstimme gesungen werden. Und noch unerklärlicher ist es, dass das Lied Ich weiß nicht, was soll es bedeuten op. 6, IV, 3 nicht auf dieser CD ist, obwohl es im Booklet besprochen ist. Als musikologischen Vergleich gibt’s nämlich dazu Lieder von Joachim Raff und Franz Liszt, dessen Loreley ein äußerst treffliches Vergleichsobjekt ist, auch ein Beispiel dafür, dass man sich vom verehrten Lehrer stilistisch nicht unbedingt beeinflussen lässt. Hier ist der Ältere der Wegweisendere, der Jüngere der mehr der Tradition Verhaftete. Liszt weitet dieses Heine-Gedicht aus ins Spannend-Balladeske mit expressivem Klang-Gepräge, in dem das Klavier farbig glitzert, was Carl-Martin Buttgereit sehr schön herausarbeitet.
Rainer W. Janka [09.11.2018]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Anton Urspruch | ||
1 | Leise zieht durch mein Gemüt op. 5 No. 1 | 00:01:18 |
2 | Von rothen, rothen Röslein op. 5 Nr. 2 | 00:01:02 |
3 | Es hat die Rose sich beklagt op. 5 Nr. 3 | 00:01:24 |
4 | Mein Herz ist ein Blumengärtchen op. 5 Nr. 4 | 00:01:24 |
5 | Der Schmetterling ist in die Rose verliebt op. 5 Nr. 5 | 00:01:31 |
Joseph Joachim Raff | ||
6 | Das verlassene Mädchen op. 98 Nr. 14 | 00:02:23 |
7 | Keine Sorg' um den Weg op. 98 Nr. 10 | 00:01:09 |
Anton Urspruch | ||
8 | Deine weißen Lilienfinger op. 3 Nr. 2 | 00:01:21 |
9 | Ich lieb' eine Blume (Liebeslieder op. 6, Heft III, 2) | 00:01:23 |
10 | Mit Rosen hast du mich geweckt op. 8 Nr. 5 | 00:02:26 |
11 | Nachtgesicht op. 25 Nr. 1 | 00:01:07 |
Franz Liszt | ||
12 | Freudvoll und leidvoll S 280 | 00:03:06 |
13 | Die Loreley S 273 | 00:06:12 |
Anton Urspruch | ||
14 | Abendständchen op. 23 No. 1 | 00:03:59 |
15 | Ariette op. 23 Nr. 2 | 00:01:42 |
16 | Nachtgesang op. 23 Nr. 3 | 00:05:18 |
17 | Mit einem gemalten Bande op. 23 Nr. 4 | 00:02:52 |
18 | An den Mond op. 23 Nr. 5 | 00:05:43 |
19 | Erwartung op. 23 Nr. 6 | 00:03:41 |
20 | Edone op. 23 Nr. 7 | 00:03:52 |
21 | Der Kuss op. 23 Nr. 8 | 00:01:16 |
Interpreten der Einspielung
- Sibylla Rubens (Sopran)
- Carl-Martin Buttgereit (Klavier)