Hendrik Andriessen
Symphonic Works Vol. 4
cpo 777 845-2
1 CD • 56min • 2012, 2013
09.06.2017
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Sicher auch wegen des durchschlagenden, internationalen Erfolges einer seiner beiden ebenfalls komponierenden Söhne, Louis Andriessen (Jg.1939), ist das musikalische Erbe des Vaters, Hendrik (1892-1981), heute eher in Vergessenheit geraten. Dabei hat dieser neben bedeutenden Beiträgen zur niederländischen, katholischen Kirchenmusik vor allem auch vier Symphonien und einiges an interessanter Kammermusik hervorgebracht. Wenn Hendrik Andriessen als seine Vorbilder als erstes zwei Franzosen, César Franck und Albert Roussel nennt, liegt man jedoch falsch, wenn man ihn irgendwo zwischen Spätromantik und (Spät)-Impressionismus verorten möchte. Bei Franck ist es sicher dessen kontrapunktische Meisterschaft, die Andriessen, vor allem im Orgelwerk, mitgeprägt hat, bei Roussel die enorme Farbigkeit der Instrumentation. Dennoch erweist sich Andriessens Musik sowohl als eigenständig als auch kritisch – gegenüber einer überkommenen Romantik, aber ebenso der totalen Absage an Tonalität.
In seinem Spätwerk finden sich Themen, die alle zwölf chromatischen Halbtöne beinhalten – somit den abendländischen Tonvorrat auf zeitlich engstem Raum vollständig abdecken. Dabei gerät der Komponist jedoch nicht in eine kaum mehr nachvollziehbare Hyperchromatik etwa eines Max Reger, sondern entwickelt eine weniger komplexe, dafür bitonal geschärfte Harmonik. Hatte der Komponist dies bereits in seiner Symphonischen Etüde (1952) demonstriert (auf Vol. 1 der CD-Reihe bei cpo), erreicht er mit seiner vierten Symphonie (1954) wohl den Zenit seines Orchesterschaffens. Zwölftontechnik der Wiener Schule im orthodoxen Sinne benutzt er allerdings nicht. So bleibt das Hauptthema des ersten Satzes immer in seiner Grundgestalt und fungiert dadurch eher als cantus firmus. Man könnte dies als reines Deckmäntelchen für eine im Grunde konservative Schreibweise abtun, aber auch andere Zeitgenossen, etwa Rolf Liebermann oder Francis Chagrin in seinen beiden Symphonien (Naxos 8.571371) haben bewiesen, dass dies durchaus seinen eigenen Reiz hat.
Die vierte Symphonie gestaltet sich über weite Strecken als hochdramatisch; in der Aufnahme unter Jean Fournet geradezu drückend. Obwohl bei Fournet der Gesamtklang durch eine fast andauernde Forte-Befeuerung deutlich undifferenzierter erscheint als hier unter der subtileren Leitung von David Porcelijn, wirkt das Werk dort unnachgiebiger und vielleicht stringenter als in der Neuaufnahme; etwa so herausstechend wie Ralph Vaughan Williams‘ vierte Symphonie innerhalb dessen Schaffens. Dies wird hier etwas nivelliert.
In der mehrteiligen Rhapsodie Libertas Venit wird gewissermaßen der Übergang von der deutschen Besatzung (mit einer gekonnten Adaption des Dies irae) zurück zu friedlichen Zeiten reflektiert: ein typisches Beispiel für Hendrik Andriessens intellektuelle, kompositorische Herangehensweise auch an eigentlich außermusikalische ‚Inhalte‘. Das Capriccio und die Canzone sind indessen leicht zu hörende Gelegenheitswerke und unverhohlen tonal.
Dem Netherlands Symphony Orchestra (aus Enschede) unter Porcelijn gelingt eine insgesamt gediegene und differenzierte Darstellung – ohne freilich das letzte Quäntchen an Enthusiasmus aufzubieten, wie es für eine echte Rehabilitierung dieses für die niederländische Musik des 20. Jahrhunderts doch so wichtigen Komponisten beim heutigen Konzertpublikum nötig wäre. Zum Kennenlernen reicht dies aber allemal.
Vergleichseinspielung: Symphonie Nr. 4: Nederlands Radio Philharmonic Orchestra – Jean Fournet (Etcetera KTC 1307, 1982).
Martin Blaumeiser [09.06.2017]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Hendrik Andriessen | ||
1 | Sinfonie Nr. 4 | 00:25:21 |
4 | Libertas venit (Rhapsodie) | 00:16:08 |
5 | Capriccio | 00:10:02 |
6 | Canzone | 00:04:43 |
Interpreten der Einspielung
- Netherlands Symphony Orchestra (Orchester)
- David Porcelijn (Dirigent)