Beethoven Departure - Utopia
Sony Classical 88843036172
1 CD • 72min • 2013
25.03.2014
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Die Jubelhymnen über immer wieder den nächsten bahnbrechenden Beethoven-Sinfonien-Zyklus sind seit dem kommerziellen Siegeszug der historisch informierten Aufführungspraxis zu einer Begeisterungs-Routine des Rezensentengeschäfts geworden. Schneller, zackiger, knackiger, perfekter… Die Eindimensionalität eines allgemeinen Interpretationskonsens’ ist das hervorstechende Merkmal dieser „Entwicklung“.
Auch Kent Nagano macht da mit seinem Top-Orchester in Montréal keine Ausnahme. Was als abweichend auffällt, sind manche erstaunlich leichtgewichtig genommenen Fortissimi und gelegentlich sehr ins elegant Hüpfende gewendete Synkopen-Akzente, auch da, wo mehr Wucht dem Charakter besser entspräche. Hauptkriterium scheint auch hier die weitgehende Einhaltung der rasanten Beethovenschen Metronomangaben zu sein – Folge der quantitativ-materialistischen Grundeinstellung unserer Epoche, die alles Zähl- und Messbare über alle anderen, weniger beweisfähigen Faktoren stellt. Das allerdings hat der unbestechliche Hermann Scherchen schon besser gemacht als alle seine Nachfolger. Auf der Strecke bleibt derart stets die Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, das klangfarbliche und expressive Potential. Ich möchte nicht auf alle Einzelheiten dieser musikalisch sehr oberflächlichen und nichtssagenden Performance eingehen, jedoch auf einige, die vielleicht zur Reflexion anregen können.
Warum werden Viertel und Achtel gleich kurz gespielt, vor allem in den Streichern? Und wenn schon, warum wird dann diese willkürliche Nivellierung nicht auch von den Bläsern eingefordert? Ganz einfach, es ist für die Streicher, vor allem für die hohen, ein Leichtes, den Ton kein bisschen ausschwingen zu lassen. Was völlig auf der Strecke bleibt, ist jegliches Tenuto, und wir bewegen uns in einem dualen Feld zwischen Dauer-Staccato und Legato, denn binden kann man Töne natürlich nur, wenn man sie aushält. Nur, wer schreibt uns denn vor, dass die nicht gebundenen Töne grundsätzlich verkürzt zu spielen seien? Das führt automatisch zu lächerlichen Entstellungen wie bereits im Hauptthema des Kopfsatzes der Ersten Sinfonie, wo die punktierte Viertel gerade mal auf Achtellänge gestutzt wird.
Diese Kritik ist keine Erbsenzählerei, denn was außerdem auf der Strecke bleibt, ist die Entfaltung des Tons und seines Farbspektrums sowie die artikulatorische Mannigfaltigkeit, die ein wesentliches Element jeden Ausdrucks ist. Wir müssen leider beobachten, dass insbesondere bei den Streichern heute die Fähigkeit, länger gehaltene Töne lebendig zu gestalten, ohne gleich in peinliche Manierismen des Anschwellens zu verfallen, weitgehend verkümmert ist. Das perkussive Element ist in den Vordergrund getreten, die Fähigkeit der melodischen Gestaltung rudimentär geworden. Auch ist die scheinbare Durchsichtigkeit, die aufgrund zu kurz gespielter Töne entsteht (die Einsätze dazwischen liegender Töne sind dadurch leichter hörbar), mit diesem Mittel auf eine sehr billige, automatisierte Weise erkauft. Was unter den Tisch fällt, ist die Kunst differenzierender Balance, da es ja so bestens zu funktionieren scheint.
Das Vivace-Tempo des Kopfsatzes der siebten Sinfonie wird wie fast immer zu schnell genommen – Beethoven hatte ja ein Metronom. Was für einen Wert hat das, wenn die Musiker nicht mehr in der Lage sein können, den durchgehend ternären Rhythmus zu empfinden, geschweige denn zu realisieren? Dass wir uns an diese Entstellung längst gewöhnt haben, wäre für einen reflektierten Musiker keine Entschuldigung. Ich erwarte, dass man alles tut, um diesen Rhythmus konstant zu entfalten, und die damit verbundenen intrikaten Problemstellungen so ernst nimmt, dass man gegebenenfalls ein Tempo findet, in welchem es noch möglich ist, das zum Ausdruck zu bringen, was der Tonsatz fordert – also zum Beispiel auch den Hochspannung erzeugenden Kontrast zwischen Tenuto der Bläser und Staccato der Streicher im schnellen Siciliano-Rhythmus in der Durchführung, der in den gewaltigen Höhepunkt mündet. Fehlanzeige. Es kommt nur das, was in diesem High-Speed-Verfahren aufgrund der Natur der Instrumente von selbst passiert.
Nagano macht hier nun wahrlich nichts neu oder anderes, als wir es seit gut zwei Jahrzehnten gewohnt sind. Wozu dann diese Neueinspielung? Vielleicht als tönender Dekor eines Booklettexts, der uns wieder einmal verkündet, Beethoven habe „ein grandioses Bild von den ,Menschen der Zukunft‘ komponiert“? Diese großartige Musik mag selbst von den ideologischen Nivellierungen einer falsch ausgelegten „historischen Aufführungspraxis“ nicht wirklich zerstört werden können, doch – ohne irgendeiner für immer vergangenen Epoche nachtrauern zu wollen und fern jeglicher Sehnsucht nach dem zum Feindbild erkorenen „philharmonischen Gewaber“ – sie wird dergestalt durchgehend beschädigt. Diese Praxis bietet keine neue, keine erneuernde, keine seriöse und keine der Musik adäquate Perspektive. Darüber können auch das sportlichste Orchester, der prominenteste Kapellmeister und die vortrefflich ausleuchtende Aufnahmetechnik nicht hinwegtäuschen.
Christoph Schlüren [25.03.2014]
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Ludwig van Beethoven | ||
1 | Sinfonie Nr. 1 C-Dur op. 21 | 00:24:57 |
5 | Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92 | 00:39:31 |
Interpreten der Einspielung
- Orchestre Symphonique de Montréal (Orchester)
- Kent Nagano (Dirigent)